"Russlanddeutsche sind nicht Putins 5. Kolonne"

Spätaussiedler Nur ein kleiner Teil demonstriert wegen Lisa, sagt Migrationsforscher Panagiotidis

Jannis Panagiotidis

Foto: Universität Osnabrück

34, ist erster Juniorprofessor für „Russlanddeutsche Migration und Integration“ am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Uni Osnabrück. Er hat Osteuropäische Geschichte und Politikwissenschaften studiert.

taz: Herr Panagiotidis, am ­Wochenende sind in mehreren deutschen Städten Russlanddeutsche auf die Straße gegangen, um gegen die deutsche Flüchtlingspolitik zu demonstrieren. Hat Sie das überrascht?

Jannis Panagiotidis: Nicht ganz, denn die Debatte über den „Fall Lisa“ hat sich in den russischsprachigen Medien und sozialen Netzwerken schon seit einer Weile hochgeschaukelt. Dass deutsche Journalisten jetzt überrascht sind, zeigt eher, wie wenig sie mitbekommen, was in russischsprachigen Medien diskutiert wird.

Die russischen Staatsmedien haben prominent über den Fall berichtet und sprechen von einer Vergewaltigung und Vertuschung, weil die deutschen Behörden sagen, dass es die so nicht gegeben hat. Warum vertrauen Russlanddeutsche eher den russischen Medien als den deutschen Behörden?

Dass viele Russlanddeutsche aus Russland weggegangen sind, weil sie dort angefeindet wurden, aber trotzdem den dortigen Medien vertrauen, mutet paradox an. Aber gerade die erste Generation der Spätaussiedler ist zumindest sprachlich noch immer stark mit der alten Heimat verbunden.

Ist das ein Symptom für eine allgemeine Entfremdung?

Da muss man vorsichtig sein. Es ist nur ein kleiner Teil der 2,5 Millionen Russlanddeutschen und der russischsprachigen Diaspora auf die Straße gegangen – die Zahlen schwanken zwischen 3.000 und 10.000. Mit ihrem Misstrauen gegenüber deutschen „Mainstream-Medien“ stehen Russlanddeutsche ja nicht allein, Stichwort Pegida. Seit Köln wird die Glaubwürdigkeit staatlicher Institutionen in den sozialen Medien massiv in Frage gestellt. Russlanddeutsche sind davon nicht ausgenommen. Die Propaganda aus Russland hat da lediglich eine verstärkende Funktion.

Manche Beobachter vermuten, die Proteste seien vom Kreml gesteuert. Was meinen Sie dazu?

In Zeiten von Facebook und WhatsApp lässt sich jede Community blitzschnell mobilisieren, dafür braucht es den Kreml nicht. Es stimmt, dass die Flüchtlingskrise in den russischen Medien als ein Menetekel für Europa gezeichnet wird. Es gibt ein offensichtliches Interesse, so ein Bild zu erzeugen. Ich wäre aber vorsichtig damit, von Russlanddeutschen als einer „5. Kolonne Putins“ zu sprechen. Dieses Bild ist falsch, denn es unterstellt ihnen zu viel Homogenität. Es gibt eine Tendenz zu Pauschalisierungen, wie immer in Migrationsfragen. Es gibt diese lautstarke Minderheit, die auf die Straße geht, und Medien, die das befeuert haben. Aber die russischsprachige Wochenzeitung Russkaja Germanija hat das Thema durchaus kritisch kommentiert.

Es wirkt absurd, dass Menschen auf die Straße gehen, damit Deutschland „deutsch“ bleibt – und sich selbst vor allem auf Russisch verständigen.

Aus russlanddeutscher Perspektive ist das kein Widerspruch. Denn in Russland war man Deutscher, wenn es so im Pass stand. Welche Sprache man sprach, hatte nur wenig mit der Nationalität zu tun. Darum haben sie eine andere Vorstellung, was es bedeutet, deutsch zu sein. Die Vorstellung von einer Sprachgemeinschaft, die hierzulande vorherrscht, teilen viele Russlanddeutsche nicht.

Daniel Bax