Al-Qaida hilft

AUS DELHI BERNARD IMHASLY

Die politischen Erschütterungen nach dem Erdbeben vom 8. Oktober in Kaschmir klingen nicht ab. Erstaunlich war schon die Grenzöffnung zwischen Indien und Pakistan für Helfer und Hilfslieferungen. Jetzt hat auch das Terror-Netzwerk al-Qaida das Thema entdeckt. Am Sonntag strahlte der Fernsehsender al-Dschasira ein Video aus, in dem der zweite Mann in der Al-Qaida-Hierarchie, Aiman al-Sawahiri, die Muslime der Welt auffordert, im Erdbebengebiet von Pakistan Rettungshelfer zu spielen. Er räumte zwar ein, dass Pakistan ein Partner der USA sei, aber deren Krieg gegen die islamischen Wohlfahrtsorganisationen rechtfertige es, dem Land zu Hilfe zu kommen.

Im Klartext heißt dies wohl: Amerika und der Westen sind dabei, mit ihrer Erdbebenhilfe Sympathien bei der örtlichen Bevölkerung zu gewinnen. Dies gilt es zu verhindern, nicht nur weil Kaschmir die Frontlinie bildet im Krieg zur Heimholung der indischen Muslime in die Umma, die Gemeinschaft der Gläubigen. Der ebenso schwer zerstörte Bezirk von Mansehra westlich des pakistanischen Teils von Kaschmir ist zudem für seine traditionell radikalislamische Haltung bekannt, mit einer langen Geschichte kriegerischer Auseinandersetzungen mit nichtislamischen Herrschern. Der Sohn von Mohammad Abd al-Wahhab, dem Gründer der saudischen Islamschule, ist in Balakot begraben, einer der am schwersten verwüsteten Städte.

Bringt die Waffen weg!

Das Al-Qaida-Video war offenbar bereits am 9. Oktober aufgenommen worden. Dies zeigt, wie aufmerksam der islamische Untergrund die politischen Auswirkungen des Erdbebens verfolgt. Die zahlreichen in dieser Region beheimateten Gruppen, einige von ihnen auch in Pakistan offiziell geächtet, waren zwar vom Erdbeben ebenfalls betroffen worden. Sie mussten sich in den ersten Tagen beeilen, ihre Waffen vor den Augen ausländischer Helfer in Sicherheit zu bringen.

Ein deutscher Helfer traf auf einen Lastwagen-Konvoi, der im Verkehrsgewühl auf einer Brücke im Kunhar-Tal stecken geblieben war und Waffen statt Hilfsgüter geladen hatte. Doch inzwischen haben sich mehrere dieser Organisationen mit großem Einsatz auch in die Erdbebenhilfe geworfen. Sie haben – aus ihren eigenen Geldquellen – Spitäler, Waisen- und Flüchtlingsunterkünfte und Nahrungsmittelzentren eingerichtet. Es wäre unfair, diesem Einsatz eine humanitäre Zielsetzung abzusprechen. Aber ebenso klar ist, dass er auch politisch-ideologische Zwecke verfolgt und, wie der Aufruf al-Sawahiris zeigt, eine Aufweichung der radikalen Haltung in der Bevölkerung verhindern soll.

Die zweite politische Dimension des Erdbebens ist mit dieser gekoppelt. Für viele kaschmirische Untergrundorganisationen in „Asad Kaschmir“ ist Indien nicht nur ein territorialer Feind, sondern auch ein ideologischer Gegner. Sie haben daher jedes Interesse, eine Öffnung der Waffenstillstandslinie zu verhindern.

Verlust der Kontrolle?

Man kann annehmen, dass die pakistanische Zurückhaltung gegenüber dem Angebot indischer Hilfseinsätze auch mit dem Sicherheitsrisiko für diese Helfer auf pakistanischem Boden zu tun hat. Armee und Regierung in Islamabad befinden sich in einem Zwiespalt: Sie befürchten, dass eine Öffnung der Grenze auf beiden Seiten eine Verbrüderungsbewegung auslöst, die ihrer Kontrolle entgleiten könnte. Andererseits haben die hinhaltenden Reaktionen von Präsident Musharraf auf die indischen Hilfsangebote in breiten Bevölkerungsschichten Wut ausgelöst. Diese lässt sich auf den Satz zusammenbringen: Bei einer nationalen Katastrophe muss Politik hinter der Rettung und Sicherung von Leben zurückstehen.

Das Dilemma Musharrafs zeigt sich in seinem überraschenden Angebot, die Grenzen für Helfer von beiden Seiten durchlässig zu machen. Es war ein Versuch, die Kritik zu dämpfen, die ihm nach der Ablehnung indischer Hubschrauber für Hilfseinsätze entgegenschlug. Als Indien noch am gleichen Tag Musharrafs Angebot zustimmte und drei mögliche Übergangspunkte identifizierte, war Islamabad darauf nicht vorbereitet und spielte weiter auf Zeit.

Delhi, das bei der Frage ausländischer Helfer auf seinem Gebiet sonst ebenfalls nicht zuvorkommend reagiert, machte sich diese Schwäche für eine weitere Goodwill-Offensive zunutze. Die Armee wurde angewiesen, entlang der Waffenstillstandslinie mögliche Übergangspunkte für die Kanalisierung von Hilfsgütern zu benennen. An einer Stelle errichtete sie sogar eine Pontonbrücke, um obdachlose Erdbebenopfer auf der eigenen Seite medizinisch zu versorgen und mit dem Nötigsten versehen wieder über die Brücke zu schicken.

Indien hat dabei nicht nur die Stimmung im pakistanischen Volk auf seiner Seite. Auch die internationale Gemeinschaft wirbt bei Musharraf darum, Nothilfe über Indien in den pakistanischen Teil Kaschmirs fließen zu lassen, um die verstopften Zufahrtswege aus dem pakistanischen Pundschab zu umgehen. Die für Südasien zuständige US-Unterstaatssekretärin Christina Rocca meinte, dass eine Senkung der Barrieren in Kaschmir ein bedeutsamer Augenblick in den Beziehungen beider Länder werden könnte. „Der wirkliche Kampf, der sich heute und in absehbarer Zukunft in Kaschmir abspielt, wird um die Rettung hunderttausender unschuldiger Leben gehen und um die Überwindung eines Desasters, wie es diese Region noch nie erlebt hat.“