Wer einen Neuanfang versucht

Fallada Die Stadt ist kalt, ein Moloch: Umso liebevoller sind alle Figuren skizziert in „Kleiner Mann, was nun?“ am Gorki-Theater

Was zählt in der großen Stadt, in der Wirtschaftskrise und auch sonst, ist Vitamin B. Vitamin B und nichts anderes. Fleiß nützt nichts, Strebsamkeit nicht und Höflichkeit nicht, es helfen weder Intelligenz noch Charme. Vitamin B, das ist das, was hilft.

Johannes Pinneberg, Hauptfigur des Erfolgromans „Kleiner Mann, was nun?“ von Hans Fallada, erwischt diese Erkenntnis an einem seiner vielen Tiefpunkte, und es sei einmal dahingestellt, ob diese Erkenntnis nun eine tröstende oder eine runterziehende ist. Sein Vitamin B ist der Liebhaber seiner Mutter, ein gewisser Jachmann, der ihm unter zwielichtigen Umständen den neuen Job (die „Stellung“, wie es im Original heißt) als Verkäufer für Herrenbekleidung im Kaufhaus Mandel beschafft.

Aber die Zeiten sind rau, und das Geld sitzt auch bei der Kundschaft alles andere als locker. Die Arbeitslosigkeit ist eine permanente Bedrohung, und warum das so ist, das wird nicht ohne Härte und Klage in diesem Roman von 1932 anschaulich gemacht. Auch später, als der junge Ehemann und Vater Pinneberg tatsächlich seine Arbeit verliert, auch weil der Schauspieler Schlüter ihm absolut keine Hilfe ist, hilft nur Vitamin B. Exkollege Heilbutt bringt die klamme Kleinfamilie in einer Datsche bei den Laubenpiepern unter. (Und die Liebe ist das Einzige, was zählt.)

Große Empathie

Dieses ganze Arbeiterklassen- und Kleinbürgerelend wird mit größtmöglicher Empathie geschildert, im Roman und auch in der Bühnenfassung, die am Freitag im Gorki unter der Regie von Hakan Savaş Mican Premiere feierte. Mehr als dreieinhalb Stunden dauerte das Stück – aber es war, trotz oder wegen aller Werktreue, in keiner Minute langweilig.

Das lag natürlich zum einen am gut gemischten Ensemble. Insbesondere Dimitrij Schaad warf sich mit vollem Körpereinsatz in die Hauptfigur; an seiner Seite agierte eine angenehm gutmütige AnastasiaGubareva als „Lämmchen“, Pinnebergs Frau und Mutter des kleinen „Murkels“. Die Dimi­nutive gehen auf Falladas Konto – sie drücken des Autors Empathie mit dem durch die widrigen Umstände irrenden Paar aus.

Aber auch der Rest des Ensembles legt eine gewisse liebenswürdige Behandlung an den Tag: Tim Porath, Tamer Arslan, Mehmet Ateşçi, Çiğdem Teke und Mehmet Yılmaz spielen alle und jeden, der oder die sonst so eine Rolle spielt: die proletarischen Eltern des Lämmchens, die Arbeitskollegen, die Mutter Mia, die Figuren des immer etwas zweifelhaften Molochs Berlin. Meist skizzenhaft, oft zugespitzt.

Die eigentliche Hauptrolle spielt hier die Hauptstadt. Als kalter Moloch, als abweisendes Monster aus Beton, als mitteleuropäische Antwort auf das Versprechen New Yorks (der Sinatra-Klassiker wird auch zitiert, in einer übersetzten Version) samt Klassenkampf und Nazis. Kennt jedeR, die oder der hier einen Neuanfang versucht hat. Umso schöner, dass die Stadt selbst kaum ins Bild findet. Denn Mican und Sylvia Rieger (Bühne) verlassen sich ganz und im Wortsinn auf die Bretter, die die Welt bedeuten.

Also herrscht eine Guckkastenoptik mit Dielenboden vor mit Fluchtpunktperspektive auf die, die gerade nicht spielen, während ganz, ganz hinten drei Musiker dezente Rumpelmusik dort zum Klingen bringen, wo es passt.

Der Stoff ist ja schon vielmals inszeniert worden – nicht nur als Verfilmung. Mican gelingt es, eine Art Schultheateraufführung für Erwachsene daraus zu machen, und das ist durchaus als Kompliment gemeint: Die aktuell gängigen Theaterismen bleiben ganz im Dienst des Stoffs; und nur gelegentlich blitzt ein Gegenwartsbezugauf. Denn aller Fallada’schen Verniedlichung zum Trotz: „Kleiner Mann, was nun?“ ist immer noch harter Stoff. Und immer wieder aktuell.

René Hamann

Wieder am 27. 1., am 6. und 25. 2. im Gorki-Theater