„Geld ist eine viel bessere Ausgangsbasis als Nächstenliebe“

Für den Mediziner Thomas Müller geht gute Familienpflege nur mit Geld. Wer auf eine Entschädigung verzichtet, will oft missionieren. Nicht so wichtig: die klassische Familie

taz: Familienpflege bringt 800 Euro im Monat. Wird dadurch nicht eine falsche Klientel angelockt, die es mehr aufs Geld abgesehen hat?

Thomas Müller: Im Gegenteil. Die Erfahrungen widerlegen das bildungsbürgerliche Vorurteil, nur Nächstenliebe bedinge gute Pflege. Dass es Geld gibt, ist vielmehr Garant für die Qualität der Therapie.

Warum das?

Es scheint so zu sein, dass der nüchterne Kontrakt – „Wir kriegen Geld, du wohnst bei uns“ – eine viel bessere Ausgangsbasis für eine kontinuierliche Pflege und einen sachlichen Umgang ist als Altruismus und christliche Nächstenliebe. Das hat damit zu tun, dass Idealisten immer auch ein missionarisches Eigeninteresse haben.

Und wer Geld bekommt, hat darüber hinaus kein Eigeninteresse mehr?

Bei der Familienpflege ist das Eigeninteresse zumindest teilweise über das Geld abgegolten. Wer Geld bekommt, erhält dadurch Anerkennung, selbst wenn der Betrag eher gering ist. Der muss sich nicht dadurch belohnen, dass er den psychisch Kranken zu Kirche, Glauben, Staat oder sonst was bekehrt. Gerade, wenn es in den Familien zu Krisen kommt, ist Geld eine bessere Basis.

Das heißt, die Familien müssen auf das Geld angewiesen sein?

Nein, die Leute dürfen nicht in finanzieller Bedrängnis sein. Aber pflegende Familien sind auf jeden Fall auch nicht typischerweise die Bessergestellten, die meist einen akademischen Abschluss haben. Die versuchen häufig, einen Therapeuten zu ersetzen. Diese Dinge laufen aus dem Ruder.

Die Familien sollen also kein Hintergrundwissen über das haben, was sie tun?

Ja, aber dass die Familien Laien sind, muss nicht heißen, dass das Projekt unmedizinisch abläuft. Die Pflegeteams, die Patienten und Familien zusammenführen, später betreuen und im Zweifelsfall eingreifen, sind enorm wichtig. Durch Gespräche haben diese Teams meist eine sehr gute Grundlage für ihre Entscheidungen. Trotzdem: Das Verhältnis Familie – Pflegling bleibt immer verwundbar.

Liegt es an der Instabilität heutiger Familien? War das früher besser?

Dahinter steht ja jetzt wieder die Idee von der funktionierenden Jahrhundertwendefamilie, die – groß und stabil – jederzeit ein zusätzliches Mitglied integrieren konnte. Das ist aber ein Mythos, genau so wie das Positivklischee vom „gesunden“ Arbeiter-, Kleinbürger- oder Bauernmilieu.

An welchen Maßstäben orientieren sich die Pflegeteams denn dann bei der Familienauswahl?

Was den Charakter eines Hauses angeht, gibt es weitgesteckte Grenzen. Die Pflegeteams haben dementsprechend keine engen Familienvorstellungen. Sie schauen vielmehr genau hin und überlegen, was zusammen passt. Sie achten auf banale Dinge wie den Wohnraum oder die dauerhafte Präsenz einer erwachsenen Person. Da können auch Witwen oder Patchworkfamilien einen guten Eindruck auf die Pflegeteams machen. Selbst, wenn es häufig noch so ist: Es braucht heutzutage keine Familie mehr für die Familienpflege.

INTERVIEW: JOHANNES SCHNEIDER