Die heilende Familie

Das andere Heim: In NRW leben hunderte psychisch Kranke bei „Gasteltern“. Die Psychiatrie hat diese Art der Pflege neu belebt

Vielleicht sind wir ein Kollektiv?“, fragen sich die vier Hausbewohner. „Nein, wir sind eine WG!“ – „Nein, wir sind eine Familie!“

AUS WICKEDE JOHANNES SCHNEIDER

Im Tal die Ruhr, am Hang ein Neubaugebiet. In Wickede hat alles seinen Platz. Die Straßen sind verkehrsberuhigend gepflastert, die Einfamilienhäuser tragen rote Ziegeldächer. Das Untergeschoss der Hausnummer 16 ist mit weißen Klinkern verkleidet, darüber ein ebenso weißer Verputz. Nichts besonders auffälliges bis auf die vier Namen auf dem Klingelschild: Unter Monika und Dieter Fritsche stehen auch Recep Calisçan und Angela Vilani. Der Türke und die Italienerin wohnen bei den Fritsches. Beide sind psychisch krank.

„Die typische Gastfamilie für psychisch Kranke gehört soziologisch der unteren Mittelschicht an, hat in der Regel ein eigenes Haus, Kinder und praktiziert die traditionelle Geschlechterverteilung, nach der der Mann einer Erwerbstätigkeit nachgeht und die Frau ganztägig zuhause ist“, sagt Paul-Otto Schmidt-Michel – und spricht aus langer Praxiserfahrung: Der Psychiater aus Ravensburg hat die jahrhundertealte, doch nach dem Krieg vergessene Familienpflege 1985 wiederbelebte.

Heute ist die psychiatrische Familienpflege wieder weit verbreitet. Mit steigender Tendenz. Allein in Nordrhein-Westfalen gibt es über 300 Pflegeverhältnisse – davon 150 unter der Obhut des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL), auch der Ansprechpartner der Fritsches. NRW, ein Land der Samariter? „Natürlich machen die Familien das nicht allein für Gottes Lohn“, sagt Frank Tafertshofer vom LWL. Die Familienpflege ist an einen finanziellen Anreiz gekoppelt. In Westfalen-Lippe liegt der bei etwa 800 Euro im Monat, abhängig von der Höhe des Pflegegelds. „Man braucht Geld, um zu leben“, sagt Monika Fritsche: „Ich könnte die Einliegerwohnung einfach vermieten und das Gleiche verdienen – doch wir sind eine Familie“, sagt sie – nicht ohne Pathos – und ruft die Hausbewohner in die helle Wohnküche zu Marmorkuchen, Servietten und Kaffee.

Recep Calisçan betritt als erster den Raum. Ein älterer Herr mit warmen Augen und einem feinen Lachen. Monika Fritsche begrüßt er mit „Hallo Chef“. Es folgen Angela Vilani, eine kleine Frau, mit einem mädchenhaften Lächeln und Dieter Fritsche, Chemiker im Ruhestand. „Wie Sie sehen: Wir sind eine Familie“, sagt auch er.

Was die Ehepartner vereint: Sie reden gerne über „ihre Familie“. Sie erzählen von 1999, als sie „einfach so“ auf eine Anzeige des Landschaftsverbands reagierten. Als sie Recep kennenlernten und dieser noch sehr scheu war. „Das waren Dir zu viele fremde Menschen. Und zu viele deutsche Menschen. Nicht wahr, Recep?“ – „Nein, nein“, sagt Recep kurz, grinst, und nippt an seinem Kaffee. „Recep hat zwei Hobbys: Kaffee und Zigaretten, nicht wahr, Recep?“ sagt Dieter Fritsche. Recep Calisçan lacht und schweigt. Die Fritsches erzählen weiter ihre Geschichte.

Wie Recep mehr und mehr aufblühte, nur gelegentlich behindert durch probewohnende Zweitpfleglinge. „Wir hatten hier welche, die geschrien und getobt haben. Recep bekam Angst. Das ging nicht“, sagt Monika Fritsche. Diese Leute mussten zurück ins Heim. „Familienpflege ist einfach nichts für die ganz schlimmen Fälle“, sagt ihr Mann.

Als Freigangsmodell für „nicht ganz so schlimme Fälle“ psychischer Erkrankung möchte Paul-Otto Schmidt-Michel die Familienpflege aber nicht missverstanden wissen. „Es ist eine spezielle Therapieform, keine Unterbringungsweise“, sagt der Psychiater. Und die sei auch geeignet, schwerere Fälle von Depression, Schizophrenie und Psychosen zu therapieren. Natürlich nur, sofern die Verhaltensauffälligkeiten die Familie nicht überforderten: „Was diese psychisch Kranken brauchen, sind stabile soziologische Verhältnisse, also eine Familie“.

Stabile Verhältnisse haben Recep Calisçan und Angela Vilani vorgefunden – seit zwei Jahren wohnen sie bei den Fritsches: Das Ehepaar ist seit 35 Jahren verheiratet. Als die beiden Söhne aus dem Haus gingen, kam Recep Calisçan. Der psychisch Kranke als Kindersatz? Herr und Frau Fritsche schütteln den Kopf. „Das sind erwachsene Menschen“, sagt Monika Fritsche. „Aber mit kaputtem Kopf“, murmelt Recep Calisçan. „Quatsch, Recep“, sagt Dieter Fritsche – und Recep lächelt und schweigt.

Was genau Recep Calisçan mit kaputtem Kopf meint, wissen nicht einmal die Fritsches: „Wir kennen weder die Diagnosen, noch haben wir gesagt bekommen, wie wir uns zu verhalten haben“, erzählt Monika Fritsche. Bei Recep Calisçan kennen sie immerhin die Geschichte: Vater dreier Kinder sei er und früher Betriebsleiter in einer Warsteiner Plastikfabrik gewesen. Dann sei seine Frau gestorben. „Auf einmal war alles weg, mein Deutsch, mein Türkisch“, ergänzt Calisçan, der langsam auftaut.

Trotz der positiven Entwicklung: Der Spagat, erwachsene Menschen nicht zu bevormunden, aber Menschen, die sich nicht mehr selbst organisieren können, eine Richtung zu geben, ist kaum zu schaffen. Psychiater Schmidt-Michel nennt die „Infantilisierung“ der Kranken eines der Hauptrisiken der Familienpflege: „Die Jüngeren laufen Gefahr, auf die Stufe der eigenen Kinder gestellt zu werden. Und die Älteren werden gerne wie der leicht senile Großvater behandelt.“

Auch Monika und Dieter Fritsche versuchen Receps Kaffeekonsum oder eine allgemeine Haltlosigkeit mit einem festen Tagesablauf und klaren Strukturen zu lösen: „Bei uns gibt es nach vier Uhr einfach keinen Kaffee mehr.“ Ansonsten seien die beiden psychisch Kranken frei. Und gleichberechtigt. Und doch: Als der sechzigjährige Recep Calisçan ein wenig umständlich erklären will, wie oft und wann er und Angela Vilani mit Rauhaardackel Lisa vor die Tür gehen, erhält er prompt Unterstützung von Monika Fritsche: „… und dann geht ihr noch um elf, um drei, und, solange es noch nicht so früh dunkel wird, um sechs. Nicht wahr, Recep?“ Recep Calisçan nickt und lächelt.

Gegen Verhätschelung helfe keine pädagogische Professionalität, sagt Schmidt-Michel. Das Konzept Familienpflege lebe gerade von der Unbefangenheit der Laien. Gesteuert werden müsse deshalb außerhalb der Familie: „Man kann die Familien und damit die Milieus individuell für den einzelnen Kranken auswählen und darüber die Therapie lenken.“

Einmal in der Woche werden die Fritsches daher von einer Betreuerin vom Pflegezentrum der Westfälischen Klinik in Warstein besucht, und einmal in der Woche treffen sich Recep Calisçan und Angela Vilani mit dieser Betreuerin und anderen Familienpfleglingen in Werl. Dort könnten sie eventuelle Klagen frei äußern. Die Fritsches fühlen sich aber nicht kontrolliert. „Wir genießen es eher. Die Gespräche mit der Betreuerin sind ein Blick über den Tellerrand“, sagt Monika Fritsche. Und auch die Gegenseite ist zufrieden: „Die Fritsches sind die perfekte Familie für Herrn Calisçan und Frau Vilani“, sagt Frank Tafertshofer vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe.

Familie? Trifft das überhaupt zu? Die Runde am Esstisch der Fritsches zweifelt mittlerweile selbst am Vater-Mutter-Kind-Begriff und übt sich an Synonymen. „Vielleicht sind wir ein Kollektiv“, sagt Dieter Fritsche. „Nein“, sagt Monika Fritsche, „Wir sind eine Erwachsenen-WG“. „Nein, wir sind eine Familie“, sagt da Recep Calisçan. Alle nicken.