Sohn eines KZ-Kommandanten: „Verbrecher und ‚Untermenschen‘“
Wie der 87-jährige Sohn eines Nazi-Verbrechers sich der Vergangenheit stellt: Walter Chmielewski über seinen Vater Carl, SS-Mann und Kommandant des KZ Gusen.
taz: Herr Chmielewski, „Ein guter Häftling hält es nicht länger als 3–4 Monate im KZ aus; wer es länger aushält, ist ein Gauner“ lautete ein Leitsatz Ihres Vaters, SS-Hauptsturmführer und KZ-Kommandant Carl Chmielewski. Wie geht es Ihnen, wenn Sie diesen Satz heute hören?
Walter Chmielewski: Dieser furchtbare Satz bestätigt mir, wie richtig die Verachtung meinem Vater gegenüber war. Leider erkannte ich den wahren Menschen Carl Chmielewski erst zu spät, aber als Kind ist man nicht fähig, so klar zu sehen oder zu beurteilen. Heute überkommt mich bei diesem Satz Übelkeit gegenüber einer solchen Menschenverachtung.
Mit sechs Jahren haben Sie zum ersten Mal ein Konzentrationslager von innen gesehen. Sie sind in das KZ-Sachsenhausen zum Haareschneiden gegangen. Sie hörten Schüsse, sahen Krematorien, rochen den Gestank der verbrannten Leichen. Haben Sie verstanden, was um Sie herum passierte?
Als Kind kann man all dies nicht richtig begreifen, man kann es nicht verstehen oder beurteilen. Natürlich habe ich meinen Vater gefragt, warum sie die Menschen so schlecht behandeln. Es seien alles Verbrecher und „Untermenschen“, antwortete er mir. Ich war entsetzt, habe meinen Vater in solchen Momenten verabscheut, aber ich war in solch einem Zwiespalt. Denn wenn ich mit ihm spazieren gegangen bin und er in seiner fantastischen Uniform beachtet wurde, dann war ich auch stolz auf ihn. Es war eine ganz eigenartige Situation. Ich lernte die ganze „SS-Prominenz“ von Rudolf Höß bis Franz Ziereis kennen.
Wann haben Sie realisiert, dass um Sie herum ein Völkermord geschieht und Ihr Vater aktiv an dieser Vernichtung teilnimmt? Seine Brutalität brachte ihm den Beinamen „Der Teufel von Gusen“ ein – dem Titel Ihres nun erschienen Buches.
Ich habe nichts davon geahnt. Als Sohn eines SS-Offiziers besuchte ich eine „Nationalpolitische Erziehungsanstalt“, da ging es nur um militärische Erfolge. Niemals und nirgends fiel das Wort „Konzentrationslager“. Bis zum Kriegsende wusste ich nicht, dass das KZ Gusen kein gewöhnliches Konzentrationslager war, sondern ein Vernichtungslager. Es gab also Quoten, wie viele Menschen man umbringen musste. Ich wusste, dass Menschen ermordet wurden. Zwar erzählte mein Vater von seiner Arbeit, aber die Dimension war mir nicht bewusst.
Sie wurden im Frühjahr 1940 von Ihrer Mutter nach Österreich geholt. Damals waren Sie elf Jahre alt und lebten mit Ihrer Familie wenige Kilometer vom KZ Gusen entfernt. Trotz dieser Nähe, Ihres Zugangs zu den Lagern in Sachsenhausen und Gusen und der Erzählungen Ihres Vaters haben Sie nicht die Ungeheuerlichkeit ahnen können?
Ja, dem ist so. Mein Vater berichtete beim Abendessen von all den Selbstmorden oder wenn im Steinbruch Menschen verunglückten. So nebenbei, als wenn es täglich Brot für ihn wäre. Ich fand es furchtbar, aber ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass da drinnen tausende gemordet wurden. Ich dachte, dass in den Krematorien diejenigen wenigen verbrannt wurden, die im Steinbruch ums Leben kamen.
Trotz dieser Brutalität beschreiben Sie Ihren Vater als fürsorglichen Familienvater.
Ich persönlich kann mich kaum über ihn beklagen, er war immer gut zu mir. Aber natürlich war er zweifelsohne ein Mörder. Trotzdem glaube ich, dass all die blutigen Exzesse im Suff passiert sind. Nüchtern wird er all das nicht geschafft haben, im Suff traue ich ihm aber alles zu. Diese Seite nannte ich „das andere Gesicht“. In solchen Momenten war ich unfähig, zu reagieren.
Können Sie sich noch daran erinnern, wie Hitler Ihnen in München 1940 die Wange tätschelte?
Daran kann ich mich noch sehr gut erinnern. Ich beobachtete die Veranstaltung mit einer Mischung aus Neugier und Abscheu. Hitler hat die Hauptstadt seiner Bewegung besucht. Ich freute mich, dass mein Vater und ich in unseren Uniformen so viel Beachtung bekamen. Da kam wieder diese Zerrissenheit durch. Vor uns war eine alte Frau, die so glücklich war, den Führer nochmals live zu erleben – und ich hatte noch Mitleid mit ihr, weil ich das so erbärmlich fand. In der SS-Zentrale, im „Braunen Haus“, wo dann Hitler vorbeikam, stellte mich mein Vater seinem „Führer“ vor. Ich habe stramm „Heil Hitler“ gesagt. Dann hat mich Hitler mit einem sanften Lächeln angeschaut und gesagt: „Ja, so stelle ich mir die Zukunft Deutschlands vor.“
Holger Schaeben: Der Sohn des Teufels. Aus dem Erinnerungsarchiv des Walter Chmielewski. Offizin Verlag, 24,80 Euro
Sie sind 1945 in US-amerikanische Kriegsgefangenschaft geraten. Wusste man, wer Ihr Vater war?
Nein, ich habe mir einen anderen Namen zugelegt, mein Soldbuch habe ich zuvor entsorgt. Es war eine traumatisierende Zeit voller Schmerz.
Was meinen Sie damit konkret?
Als Kriegsgefangener musste ich nach Gusen, wo mein Vater als erster Lagerkommandant auch gemordet hatte. Dort mussten wir ein Massengrab schaufeln. Wir haben einen fürchterlichen Leichenhaufen aufgefunden. Wenn ich heute einen Knochen von mir berühre, fällt mir immer wieder ein, wie ich die erste Leiche angefasst habe, die kaum noch Haut hatte, sondern nur noch ein Skelett war. Wir mussten in die Gräber hinabsteigen, um die Gesichter nach oben zu drehen. Es war fürchterlich, dieser Gang auf toten Körpern, wie auf einem Luftkissen.
Wie lebt es sich mit solch einem historisch belasteten Erbe?
Wie ich damit leben konnte, weiß ich selbst nicht so genau – aber es ist mir weitgehend gelungen.
Ihrem Vater wurden seine außerehelichen Affären zum Verhängnis. Ohne sich von Ihrer Mutter scheiden zu lassen, heiratete er nochmals. Er wurde wegen Bigamie verurteilt, und erst da kam raus, dass er sich einen Tarnnamen zugelegt hatte und wer er eigentlich war. 1961 wurde er wegen 282-fachen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt, 18 Jahre verbrachte er im Gefängnis und seine letzten 12 Lebensjahre in Freiheit.
Ich hatte zu diesem Zeitpunkt schon seit langer Zeit mit meinem Vater gebrochen, wir haben uns zuletzt im April 1945 gesehen. Die Verfahren habe ich aus der Ferne verfolgt. Es war schockierend, weil ich Angst hatte, dass ich durch all die Zeitungsberichte meinen Job verlieren könnte. Aber die Menschen haben mich eher ermutigt, mir immer wieder gesagt, dass mein Vater der Verbrecher sei und ich nichts damit zu tun habe. Sein Schicksal hat mich nicht berührt, das Verhältnis war so zerstört, dass es mir eigentlich egal war, was mit ihm passierte. Der war mir so fremd, und meine Distanzierung war auch eine Überlebensstrategie.
Dennoch haben Sie sich 1979 wieder auf Treffen mit ihm eingelassen. Warum?
Es war wieder solch ein fürchterlicher Zwiespalt. Einerseits wollte ich ihn nie wieder sehen, seine Zweitfrau, auch eine Person rechts außen, schilderte mir, er sei blind, krank. Er habe nur einen Wunsch vor seinem Tod, mich zu sprechen. Dann habe ich mich überreden lassen und bin hingefahren. Aber ich habe außer Mitleid nichts für diesen alten Mann empfunden. Kurioserweise erlebte ich einen sanften, liebenswürdigen Herrn. Niemand hätte glauben können, dass er ein fürchterlicher SS-Scherge war, der tausenden Menschen den Tod gebracht hat.
Haben Sie über seine Taten gesprochen?
Nein, ich wollte auch nicht darüber reden. Es wäre zu ganz schlimmen Auseinandersetzungen gekommen, denn er war sich keiner Schuld bewusst, hat nie verstanden, warum er ins Gefängnis musste. Er hatte ja sogar noch Kontakt zu Gudrun Burwitz, der Tochter von Heinrich Himmler.
Die auch bei der Beisetzung Ihres Vaters im Dezember 1991 anwesend war. War sein Tod eine Erleichterung für Sie?
Ich war weder froh noch entsetzt, es war mir gleichgültig.
Warum jetzt dieses Buch? Sie sind 86 Jahre alt. Reißen Sie nicht nur alte Wunden auf?
Natürlich ist die Vergangenheit aufwühlend, und all das geht sehr stark an die Substanz. Es sind furchtbare Erinnerungen, die ich vergessen wollte, aber nie vergessen konnte. Die Bilder von den Massengräbern waren immer unterschwellig da, und heute bin ich froh, dass dieses Buch entstanden ist. Es ist keine Abrechnung. Es gibt nicht mehr viele Zeitzeugen, die Konzentrationslager von innen gesehen haben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen