Plaudern ist seine Passion, Präzision sein Handwerk: Alfred Gailmann in seiner Wohnung, die zugleich Arbeitsstätte ist Fotos: Majken Rehder

Weihnachtsmann mit Nagelschere

Scherenschnitt Alfred Gailmann sitzt gern in seinem Lieblingscafé in Mitte, trinkt Kaffee „komplett“ und fragt die wechselnden Gäste, welches Lieblingstier sie haben – dann holt der 76-Jährige Schere und Papier hervor und legt los. So sind schon viele Hunderte Scherenschnitte entstanden. Mit seinen Arbeiten trifft er – wortwörtlich – ins Schwarze und verdient sich etwas zu seiner Rente dazu

von Nicole Andries und Majken Rehder

„Was ist dein Lieblingstier?“ – mit dieser Frage aus Kindertagen wird jeder konfrontiert, der das Café Lois in Berlin betritt. In der Hektik eines schnellen Cappuccinos ist das eine Irritation, die die morgendliche Routine stört und die man im ersten Moment mit einer Handbewegung abwehren möchte. Doch längst ist man in das Magnetfeld des alten Mannes geraten, der es ausgelöst hat.

Alfred Gailmann ist ein Berliner Urgestein. Eigen ragt er hinein in die Brandung des Mainstreams, der mit der Gentrifizierung seit nun mehr fünfzehn Jahren durch Berlins Mitte fließt. Mit der Aura des Originalen sitzt der 76-Jährige zwischen geklonten Hipstern, neoliberalen Akademikerfamilien und dem krea­tiven Prekariat.

Und während um ihn herum die Welt weich im Schaum der Latte macchiatos aufgeht, trinkt er, unbeirrt wie zu DDR-Zeiten, seinen Kaffee „komplett“. An der Ecke Linienstraße/Gormannstraße, da, wo einst „ein runder Parkplatz war und man knietief in der Hundekacke stand“, befindet sich seit 2006 „sein“ Café – für Alfred Marktplatz und Gerüchteküche zugleich. Zu den Veränderungen im Viertel sagt er: „Neue Häuser, neue Anstriche und mehr Rummel, das gefällt mir.“

Der Scherenschnitt ist ein etwas aus der Mode gekommenes kunsthandwerkliches Verfahren, bei dem Papier mittels Schere oder Passepartoutmesser etc. so bearbeitet wird, dass ein anschauliches Bild entsteht – ein realistisches oder ein schematisches (Ornament); bekannt ist die klassische Silhouette.

Die Scherenschnittkunst kommt ursprünglich aus China.

In Deutschland war der Scherenschnitt in der Kultur der Goethe-Zeit und des 19. Jahrhunderts beliebt. Zahlreiche zeitgenössische Künstler beschäftigten sich auch heute mit dem Sujet. Der Deutsche Scherenschnittverein e. V. (scherenschnitt.org) widmet sich der Pflege dieser Kunst und der Archivierung von Künstlerbiografien und Werkbeispielen. (heg)

Beobachten ist sein Kapital

Alfred kennt jeden auf der Straße; alle zwei Minuten reißt er den Arm hoch und seine „Revolverschnauze“ auf. Plaudern ist seine Passion, Beobachten sein Kapital und Präzision sein Handwerk. Der Mann, der in der DDR Volkspolizist war, hat auch heute noch alles im Blick und erfasst die Welt messerscharf: im Scherenschnitt!

Wilde Pferde, sanfte Esel und brüllende Löwen schneidet er für seine „Kunden“ mit einer Nagelschere durch schwarzes Tonpapier als Lieblingstiere ins Leben. Seine wunderbar präzise gefertigten Scherenschnitte mit Tiermotiven sorgen im durchgetunten Mitte für Aufsehen.

Gailmann trifft mit diesen unzeitgemäßen Handarbeiten,– die er unters Volk bringt – wortwörtlich ins Schwarze. „Die gesamte Belegschaft und unsere Stammkunden sind schon mit Scherenschnitten eingedeckt”, bemerkt der Kellner grinsend, während er Alfreds Kaffee ungefragt vor ihm abstellt.

Alfred Gailmann, der in der DDR Volkspolizist war, hat auch heute noch alles im Blick und erfasst die Welt messerscharf – im Scherenschnitt

Eine Woche dauert es, bis man die Arbeit in den Händen halten kann. Männer wollen Pferde, Frauen Wassermänner, Journalistinnen Esel und Ärzte gefährliche Tiere. In Alfreds Kopf offenbart sich eine ganze Typologie der Beziehung zwischen Mensch und Tier. Sein Lieblings­tier ist die Ameise – gut organisiert und arbeitsam.

So verwundert es nicht, dass Gailmanns Produktivität unbezähmbar ist. Schätzungsweise 1.000 Arbeiten hat der alte Mann mit Mütze und Kippe im Mund bereits gefertigt. Seine Leidenschaft begann noch zu DDR-Zeiten auf einem Weihnachtsmarkt. Dort bot ein Mann Porträts aus Tonpapier an. Al­fred dachte: Das kann ich auch und übte ein ganzes Jahr lang. Neben Scherenschnitt lernte er das Zeichnen und gewann sofort bei einem Plakatwettbewerb. Einige der Arbeiten waren so gut, dass sie sogar dem „großen sozialistischen Bruder“ (also der Sowjetunion) geschenkt wurden.

DDR und weite Welt

Ergebnis von Papier und Schere und viel Geschick

Alfreds Arbeitsstätte ist seine Wohnung. Seit 1955 lebt er in einem Haus aus dem 19. Jahrhundert, direkt neben der Platte vis-à-vis zum Garnisonsfriedhof. Bei Alfred fand vieles, was nach der Wende auf dem Müll landete, ein neues Zuhause: alte Archivschränke aus Arztpraxen, eine Spiegelwand vom Friseur und eine Trennwand aus einer Gaststätte. Zu Hause DDR, aber in den Schränken die weite Welt.

Sie präsentiert sich in den 150.000 Postkarten, die ordnungsgemäß gesammelt, kategorisiert und archiviert sind. „Ich will alle Staaten haben und Sondergebiete und auch Motive für Scherenschnitte“, kommentiert der Sammler. Auf einem kleinen Tisch liegen Scheren in unterschiedlichsten Ausführungen durcheinander. Tonpapier stapelt sich auf dem Couchtisch.

Nicole Andries und Majken Rehder, seit über 20 Jahren in Berlin, arbeiten als Autorenduo, Kultur- und Medienschaffende und verstehen sich als Archäologinnen des Alltags. Bekannt sind sie durch das Buch- und Ausstellungsprojekt „Zaunwelten“ über selbst gebaute DDR-Gartenzäune.

Die Arbeit hält ihn aufrecht

Jeden Tag muss der Rentner einen Scherenschnitt zustande bringen. Die Arbeit hält ihn aufrecht. „Wenn du erst mal auf dem Abstellgleis bist, gehst du zugrunde. Es ist zwar ein Vorteil, dass man Rente kriegt, aber ein Nachteil, dass man nicht mehr arbeiten darf.“ Für Alfred ist der Scherenschnitt ein kleines Zubrot, aber vor allem Lebenselixier. Wie auch die Begegnungen mit all den Menschen. „Ich muss mindestens einmal am Tag durch die Straße gehen und im Verkehrsstrom mitschwimmen.“

Und so kennen alle den Alfred, der alle kennt. Selbst die Kinder im Viertel: Wenn der alte Mann mit Rauschebart, Mütze und seinem Jutesack die Linienstraße entlangschlurft, stehen sie mit großen Augen da und fragen: „Wann kommst du endlich? Wie oft müssen wir noch schlafen?“ Denn für sie ist Al­fred Gailmann der Weihnachtsmann!