Hausbesuch Unten wohnen die Eltern, oben wohnt die Tochter mit Freund. Zwei Generationen, die sich Halt geben. Als die Großmutter noch lebte, sorgten sie auch für diese. Für ihr Glück haben alle vier einiges riskiert
: Hauptsache, Familie

Lebensgeschichten mit Höhen und Tiefen: die Haases gemeinsam am Tisch vor dem Herrgottswinkel

von Marlene Goetz
(Text) und Quirin Leppert (Fotos)

Zu Besuch bei der Großfamilie Haase in München, deren Lebensgeschichten sind gelebte Sozialkunde. Abenteuer und Romanzen kommen auch drin vor.

Draußen: Ein weißes Haus mit Garten, zur Straße Gemüse­bee­te, hinterm Haus einen Blumengarten und eine überdachten Terrasse mit Strandkorb. (“Im Sommer ist unsere Küche draußen.“)

Drin: Die Eltern wohnen im Erdgeschoss, Tochter Barbara mit Lebensgefährte Dieter im ersten Stock. Unten trifft sich die Familie: ein großer Raum, Küche und Wohnzimmer, in der Mitte steht der dunkelgrüne Kachelofen „Abends ist es hier wie eine Sauna“, sagt Barbara. Ob unten oder oben, auf jedem Fensterbrett und auch den Möbeln stehen Pflanzen und Tierfiguren: Hasen, Bären, Hunde, aus Porzellan, Stein, Holz, Plüsch.

Wer macht was? Helmut (83) und Maria (77) Haase sind in Rente. Sie kümmern sich um das Haus, den Garten, die Hündin Senta. Tochter Barbara (52), genannt „Bärbel“, sorgt als Netztechnikerin bei der Deutschen Telekom dafür, „dass alle telefonieren und fernsehen können“. Seit 1980 ist sie zudem aktive Gewerkschafterin. Ihr Freund Dieter (51) ist seit 25 Jahren beim Baumarkt Mitarbeiter der Logistik: „Ich bestelle das, was die Leute kaufen werden.“

Lebensgeschichten der Eltern:

Helmut kam 1932 unehelich in Hannover zur Welt. Seinen Familiennamen Haase hat er vom Stiefvater – einem Berufssoldaten, den seine Mutter später heiratete. „Bei der Hochzeit kam raus, dass es mich gab, vier Tage später war ich aus dem Waisenhaus und adoptiert“, erzählt er. Seinen leiblichen Vater konfrontierte er erst mit 14: „Er gab mir eine Ohrfeige.“ Im gleichen Jahr macht er eine Lehre als Schäfer. Das prägt: Er fühlt sich nur wohl, wenn er draußen arbeitet – als Schäfer und später auch im Zirkus. Nachdem er Vater wurde, versuchte er es als Schichtarbeiter bei BMW, aber es machte ihn krank. „Der Arzt hat gesagt: ‚Wenn Sie zehn Jahre bei BMW bleiben, dann sind Sie ein toter Mann!‘“ Deshalb wurde Helmut später Platzwart auf Münchner Sportplätzen.

Maria ist 1938 in München geboren, ihr Vater war Maurer, beide Eltern vom Land. Sie durfte nicht auf die Mittelschule. „Eine Frau sollte zu Hause bleiben“, galt als Motto. Mit 17 verliebte sie sich in einen Kirchenmaler, folgte ihm in die Schweiz, ohne ihn zu heiraten. Es ging nicht gut aus. Küchenhilfe in Lindau, Verkäuferin in München sind weitere Stationen. Dann lernte sie Helmut kennen. Er war damals beim Zirkus, sie besuchte ihn in Neapel und Linz, zog dann auch seinetwegen nach Wien und arbeitete dort in einer Küche. Weil die Oma krank wurde, gingen sie zurück nach München. Dort leben sie jetzt im selbstgebauten Haus auf dem Grundstück von Marias Eltern.

Das erste Date: Maria war 20, als sie Helmut zum ersten Mal sah. „Das Lustige war: Am selben Tag bekam ich einen Heiratsantrag von einem anderen Mann.“ Sie wurde dann immer öfter in den Zirkus Krone eingeladen, bis er weiterzog und sie lang auf die versprochenen Briefe warten musste. „Ich habe mir gedacht: Er ist wie die anderen!“

Geordnetes Chaos

Hochzeit: Am 28. Dezember 1960 heirateten sie standesamtlich. „Meine Eltern wollten ihn nicht: kein Geld, evangelisch, ein Preuß und Rumtreiber vom Zirkus!“, erzählt sie. Aber sie war volljährig und schwanger (mit dem Sohn Willi). Am 18. März 1961 wurden sie kirchlich getraut. „Es war schwierig, einen Pfarrer zu finden.“

Lebensgeschichten der Kinder:

Bärbel ist 1963 geboren. Nach der Schule lernt sie Elektrotechnik und arbeitet danach als Fernmeldehandwerkerin bei der Post. Im Allgäu, wo ihr früherer Freund wohnte, lernt sie Dieter kennen.

Dieter Ohnesorg ist 1964 in Memmingen (Allgäu) geboren. Er hat seinen Vater nicht gekannt, lange dachte er, der Lebensgefährte seiner Mutter, ein Sizilianer, wäre es. Groß war die Enttäuschung, als der Ziehvater das Familienhaus verließ. Mit 20 heiratete er, und ein Jahr später kam schon wieder die Scheidung. „Ich war am Boden zerstört“, sagt Dieter. Er ging zur Mutter zurück, trank, rauchte. Seine Rettung: ein Verein, wo man die Geschichten aus der Geschichte nachspielt. Dort traf er eines Tages Bärbel.

Hauptsache, Familie: Helmuts Mutter wurde mit 17 von ihrem Chef vergewaltigt, wurde schwanger, brachte den Jungen zur Welt, brachte ihn ins Waisenhaus. „Das war doch Anfang der 1930er Jahre. Sie durfte nicht mit einem Kind heimgehen.“ Sie erklärte ihn für tot und kam dafür zwei Jahre ins Zuchthaus. Später heiratete sie einen Berufssoldaten, der ihn adoptierte, dann aber angeblich im Krieg fiel. „Meine Oma erzählte mir später, dass meine Mutter geschieden wurde“, erinnert er sich. Erst bei Maria hat er Sicherheit und Geborgenheit gefunden und dafür sein Zirkusleben aufgegeben. Maria wollte immer ganz viele Kinder. Zu den eigenen zwei nahmen sie Pflegekinder auf, damals in der Münchner Sozialwohnung in Neuperlach. Willi hat zwei Söhne aus einer anderen Beziehung. Und Bärbel? „Das mit den Kindern ist einfach nicht passiert.“

Tierwahn? Helmut hat ein Händchen für Viecher: Hunde, Schafe, Pferde, Elefanten oder Raubtiere – sogar zu Braunbären hat er einen Draht. „Eigentlich wollte ich Tierarzt werden, aber dafür war ich in der Schule zu schlecht“. Mit 18 war er Schäfer, fand aber als Pferdepfleger, dann als Jockey in einem Reitstall in Hannover erste Anstellungen. Das Geld reichte nicht, und er gab ein paar Tipps beim Wetten. „Als ich erwischt wurde, flog ich raus.“

Kuscheltiere sind auch Tiere

Raubtiere: Er wollte weiter mit Pferden arbeiten und meldete sich beim Zirkus: „Die brauchten aber jemanden für die Raubtiere.“ Tiger, Hyänen, Leoparden, Löwen. Ein Löwenbaby zog er mit der Flasche groß. Geschlafen hat er im Nilpferdwagen. Auch die Zirkuspferde betreute er, eine Anakonda musste er füttern, und als Inder verkleidet hat er die Elefanten geführt. Sehr lange pflegte er zudem die Braunbären: „Ich hätte Dompteur werden können, hätte ich einen Schulabschluss gehabt.“

Lebensgefahr:Einmal war es kritisch: „Ein Eisbär wachte während einer schlecht dosierten Narkose auf und spielte mit mir wie mit einem Tennisball, beinahe hätte ich dabei das Leben verloren.“

Geschichten erzählen: Wenn Helmut vom Zirkus erzählt, hören alle gern zu. Doch die Zirkuszeit endete Anfang 1960 in Wien mit einer Rauferei zwischen Helmut und dem Bruder des Seelöwendompteurs. Später arbeitete er wieder als Schäfer, und sowieso gab es in der Familie immer einen Hund.

Und wie finden Sie Merkel? „Wir sind bei der SPD!“ sagt Helmut Haase. Punkt.

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