Neal Stephensons neuer Roman: 5.000 Jahre später
Der Mond ist kaputt, die Erde wird unbewohnbar. In „Amalthea“ schickt Neal Stephenson die Überlebenden hoch hinaus und tief hinunter.
Für Pessimisten ist das Jahr 2015 ein Glücksgriff: Der Terror des „Islamischen Staates“, stärker werdende nationalistische und rassistische Bewegungen in Europa, Russland und den USA, Krieg in der Ukraine, ein weltumspannender Kapitalismus, der ungebremst Menschen und Ressourcen ausbeutet und dabei ökonomische und ökologische Krisen in Permanenz hervorbringt.
Ein Science-Fiction-Schriftsteller, der all das vor Augen hat, kann fast nur voluntaristisch oder in einer Übersprungshandlung Utopie verordnen oder, wenn er realistisch sein will, eine dystopische Gesellschaft der Zukunft beschreiben, gegen die alles Übel von heute als wohlriechender Himbeerhain voller Glück erscheint.
Neal Stephenson vermeidet beides. Dabei ist die Grundkonstellation in seinem Roman „Amalthea“ verlockend, sich für eine der beiden Varianten zu entscheiden. Denn plötzlich ist der Mond kaputt. Etwas – man wird nie erfahren, was es war – hat ihn zertrümmert. Zuerst in sieben Teile, die bald nochmal kollidieren. Und wieder. Und abermals.
Sodass der Menschheit nicht ganz zwei Jahre bleiben, bevor all diese Trümmer in die Erdumlaufbahn eintreten und als Meteoritensturm die Erde für fast 5.000 Jahre in etwas verwandeln, das mehr mit einem Schmelzofen zu tun hat als mit einem bewohnbaren Planeten.
Zwei Jahre sind nicht viel, um zu retten, was zu retten ist. Schnell wird klar, dass höchstens 0,0005 Prozent der sieben Milliarden Menschen die Chance haben, zu überleben. Ein utopische Erzählung setzte danach auf einer Meta-Ebene an, die angesichts des Untergangs das gemeinsame menschliche Bestreben herausstellte, alle Differenzen zu überwinden und der Menschheit eine Zukunft zu garantieren. Auch in einer dystopischen Erzählung läge die Meta-Ebene nahe, es käme zu einem Kampf, bei dem die militärisch und ökonomisch Stärksten und Skrupellosesten sich die Voraussetzungen fürs Überleben sicherten.
6.999.965.000 Tote
Stephenson wählt stattdessen eine pragmatische Erzählweise. Ja, die Menschheit versucht in „Amalthea“ gemeinsam zu reagieren. Die Internationale Raumstation ISS wird zur Basis für Raumschiffe, in denen Pioniere aus allen Staaten der Erde andocken. Ja, auch ein Kampf unter den Stärksten und Skrupellosesten kommt in Gang, die venezolanische Marine wird mit Atomwaffen angegriffen, die US-Präsidentin rettet sich selbst entgegen aller politischen Absprachen in einem ausgemusterten Nasa-Shuttle. Und doch siegen Pragmatismus und Flexibilität.
Eine Raumflotte wird ausgerüstet, die ein paar tausend Menschen, genetisches Material von Menschen, Tieren und Pflanzen sowie kulturelle Errungenschaften enthält. Andere Erdbewohner graben sich so tief wie möglich in Stollen und Schächten ein und auch unter Wasser wird nach Orten für ein sicheres Asyl gesucht, ohne dass eine Behörde sichere Herkunftsländer benennt, Fluchtgründe untersucht oder unterseeische Zäune errichtet. Dann hagelt es Mondtrümmer und 6.999.965.000 Menschen existieren nicht mehr.
Pathos ist Stephensons Sache nicht, und doch sind Theatralik, Erhabenheit und Sentimentalität plötzlich da, wenn Metropolen von Tsunamis getroffen werden und Kathedralen in Flammen aufgehen. Auf den anderen 1.000 Seiten aber bleiben Stil und Sprache gewohnt nüchtern und unaufgeregt. Stephenson ist als Autor des Cyberpunk bekanntgeworden, einem utopische Meta-Welten verachtenden Untergenre des Science Fiction, hat sich aber mit Romanen wie „Cryptonomicon“ und einem dreiteiligen Barock-Zyklus („Quicksilver“, „Confusion“, „Principia“) auch schnell wieder davon freigeschrieben.
Technologie als Werkzeug
Der US-Amerikaner ist ein Autor, der beim Schreiben mehr aus naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und Theorien schöpft als aus Romantheorie und Literaturwissenschaft. Pragmatisch eben, mit einer Vorliebe für technologische Details und breitflächige Erzählungen, gelegentlich mit personalisierten Action-Plots gemischt. Stephenson liest sich trotzdem immer gut, weil er sich von platten Sci-Fi-/Fantasy-Pageturnern und anderer Reißbrettliteratur dank umfassender Recherche und intellektueller Durchdringung seiner Themen deutlich abhebt.
So entsteht Literatur, die sich großen Fragen widmet, ohne sie futuristisch-agitatorisch oder techno-propagandistisch einzuhegen. Stephenson erzählt in „Amalthea“ nicht nur eine mitreißende Geschichte. Er führt auch technologische Möglichkeiten vor, die beeindrucken. Sie beeindrucken umso mehr, weil sie nur das sind, was interessengeleitete Menschen aus ihnen machen. Oft genug in der Science Fiction auf schlichte Art verherrlicht oder in banalster Weise verteufelt, ist Technologie in diesem Buch nur ein Werkzeug, das mit der gebotenen Umsicht und reichlich Skepsis eingesetzt wird.
Auf so manchen Leser warten in „Amalthea“ eine Menge Zumutungen: Atomkraft kann unter Umständen im All sehr nützlich sein, Gentechnologie hilft der Menschheit beim Überleben, in Matriarchaten entstehen nicht unbedingt bessere Menschen, der Kapitalismus wird weder abgeschafft noch gezähmt und der Zentralismus in Form der ISS siegt in der Krise über seine dezentral organisierten Konkurrenten, die in Kleinst- und Klein-Archen leben und kooperieren.
Neal Stephenson: Amalthea. Aus dem Englischen von Juliane Gräbener-Müller und Nikolaus Stingl. Manhattan Verlag, München 2015. 1.056 S., 29,99 Euro.
Es ist allerdings ein Sieg, den nur acht Menschen im All überleben. Es sind acht Frauen: Aida, Camila, Dinah, Ivy, Julia, Moira, Tekla und Luisa. 5.000 Jahre später wird man die sieben fruchtbaren unter ihnen die „Urmütter“ nennen, die sich dank eines kleinen Teils des von der Erde auf die ISS gebrachten genetischen Materials – 97 Prozent gehen bei einem Unfall verloren – auch fortpflanzen konnten. So begründeten sie das Leben in Habitaten, errichtet auf großen Gesteinsbrocken, von denen aus die Erde wieder besiedelt werden soll, sobald sie als bewohnbar eingestuft wird.
Der Gesellschaftsvertrag der „Urmütter“
Der Mangel an Überlebenden und der Mangel an Genmaterial sind ein von Stephenson geschickt gesetztes Axiom. 5.000 Jahre Zeit hatte die Menschheit, sich auf die Wiederinbesitznahme der Erde vorzubereiten, 5.000 Jahre, in denen die Planung einer nahezu perfekten Welt möglich sein sollte. Und dann kommt wieder nur ein Gerangel um Macht, Einflusssphären und Vorherrschaft zustande. Das Axiom dämpft die überschüssigen Erwartungen beim Lesen. Wieder und wieder wird einem deutlich gemacht: Die Ressourcen waren begrenzt, deswegen waren es die Möglichkeiten der neuen Evolution auch.
Die „Urmütter“ einigten sich in einer Art Gesellschaftsvertrag, dass jede von ihnen, gentechnologisch unterstützt, ihre eigene Abstammungslinie mit spezifischen Stärken und Fähigkeiten hervorbringen möge. Diese „Quasi-Rassen“ hätten nun endgültig das Potenzial für eine deftige Dystopie, einen in die Zukunft verewigten „Clash of Civilizations“, wo sich die julianische Pegida und der aidianische „Islamische Staat“ Weltraumschlachten liefern und ein postpostpostgriechisches Habitat noch immer Schulden an die Weltraumzentralbank zurückzahlen muss.
Doch wieder siegen Pragmatismus und Flexibilität. Wenigen Extremen steht eine überwiegend vermischte Menschheit in den Habitaten gegenüber, die teilweise im All bleiben will und der Wiederbesiedlung des Planeten nichts abgewinnen kann. Hinzukommen noch die Überlebenden der Erde, die sich nicht im All, sondern – nicht minder widrigen Bedingungen ausgesetzt – unter dicken Gesteinsschichten oder unter dem Meer fortentwickelten.
Was nun? Werden die Menschen endlich alle Differenzen hinter sich lassen und auf der Grundlage eines 5.000 Jahre alten Soundfiles gemeinsam Michael Jacksons „Earth Song“ singen? Oder werden sie alle gemeinsam erst recht unausstehlich sein? Das Buch verweigert eine Antwort und doch ist klar: pragmatisch wird es weitergehen, geht ja gar nicht anders.
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