Die Gesellschaft neu definieren

ANTHROPOZÄN Einer umstrittenen These zufolge leben wir im neuen Erdzeitalter. Was ist da dran? Und ist das ein Grund zur Panik? Unser Autor fasst zusammen, welche Auswirkungen das auf unser Denken haben kann

In einem zweijährigen Projekt wird das Haus der Kulturen der Welt mit Mitteln der Kunst und der Wissenschaft die Hypothese des Anthropozäns – dem „Zeitalter des Menschen“ – ausloten. Dieser zufolge bedarf es eines Paradigmenwechsels in den Naturwissenschaften genauso wie in Kultur, Politik und Alltag. Bei der Eröffnungsveranstaltung treffen sich renommierte Denker, Künstler, Filmemacher und Wissenschaftler vier Tage lang auf Erzählinseln, von denen sich jede einem Thema widmet: „Oikos“ (Haushalt), „Techné“, „Perspektiven“, „Gärten“ und „Zeiten“.

■ Das Anthropozän-Projekt. Die Eröffnung: Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee 10, 10.–13.Januar. Programm unter: www.hkw.de

VON JÖRG SUNDERMEIER

Ab heute widmet sich das Haus der Kulturen der Welt dem Anthropozän. Doch mit dem Begriff Anthropozän kann kaum jemand etwas anfangen. Wie auch? Der Begriff ist wenig verbreitet und höchst umstritten. Was also ist das Anthropozän? Es ist das Erdzeitalter, in dem wir jetzt gerade leben. Doch halt! Leben wir nicht eigentlich im Holozän?

Das stimmt. Laut der Geological Society of London befinden wir uns seit etwa 12.000 Jahren im Holozän, das diesem vorhergehende Pleistozän erstreckte sich laut nämlicher Quelle über einen Zeitraum von über anderthalb Millionen Jahren. Und jetzt soll schon wieder ein neues Erdzeitalter angebrochen sein? Ja. Auch die altehrwürdige Geological Society of London musste einräumen, dass die Veränderungen, die die Menschheit in den vergangenen drei Jahrhunderten der Erde angedeihen ließen, diese so stark verändert haben, dass man von einem neuen Erdzeitalter sprechen könne. Diese Ansicht hat sich offiziell allerdings noch nicht durchgesetzt.

Mensch beherrscht Natur

Die Befürworter der These vom Anthropozän zeigen auf, dass sich das Antlitz der Erde seit der Erfindung der Dampfmaschine und seit der damit einhergehenden Ausbeutung fossiler Brennstoffe massiv verändert habe. Seit rund 70 Jahren könne man sagen, die Menschen beherrschten tatsächlich die Natur, sei es mit Atomwaffen, sei es mit Autoabgasen. Diese These jedoch ist höchst umstritten. Nicht nur Chemiekonzerne und Verkehrslobbyisten bestreiten seit Jahren die Erderwärmung oder zumindest ihre Ursachen, auch der einfache Transgendermensch von der Straße wird ruppig, wenn man seinen Lebensstil einschränken will, um die Erde zu retten.

Die Fleischliebhaberin genauso wie der Katholik wollen sich nicht ändern, sondern glauben, mit einem teureren neuen Kühlschrank ihr Scherflein zur Rettung der Welt beigetragen zu haben. Andere wiederum suchen die Schuld an der Weltmisere allein bei sich, da sie nicht glauben können, dass die Industriestaaten wider besseres Wissen wenig daran interessiert sind, ihre Emissionen einzuschränken, und die sogenannten Entwicklungsländer gleich gar nicht.

Globale soziale Revolution

Denn die These vom Anthropozän bringt es mit sich, dass man neu definieren und das Alte infrage stellen muss. Quatsch ist nämlich die Idee, man könne die Entwicklung stoppen oder gar umkehren, könne eines Tages gewissermaßen einen ökologisch ausbalancierten Urkommunismus erreichen, in dem sich Kuh und Schlachter liebevoll gute Nacht wünschen. Sind wir daher alle bald tot, weil Erde ’putt?

Nein, man kann den Anbruch des neuen Erdzeitalters auch als Chance begreifen. Der Naturwissenschaftler Johan Rockström, der nicht im Verdacht steht, einen kommunistischen Umsturz zu planen, sieht in der Morgendämmerung eine globale soziale Revolution. Der Paradigmenwandel erzwinge ein radikales Um- und Weiterdenken, das in der bisherigen Gesellschaftsordnung nicht zu verwirklichen sei.

Kunst als Wissenschaft

Und auch für das Feld der Kunst tut sich Neuland auf. Denn der bisherige Begriff von politischer Kunst steht gleichfalls zur Debatte, doch, wie Jill Bennett in einem schönen kleinen Aufsatz zur letztjährigen Documenta anmerkte, die Transdisziplinarität, in der sich einige Künstler_innen schon länger üben, ermögliche eine Verquickung von Kunst und Wissenschaft. Und ermöglicht neue Blicke, denn „in Wirklichkeit macht das Anthropozän uns zum Thema“.

Die alte Hoffnung auf die Kunst als der Wissenschaft vom Leben steht also wieder auf, der in allen Bereichen sich bildende und wirkende Mensch, das Gegenteil vom Fachidioten, steht wieder auf dem Plan.

Doch es bleiben Fragen. Hegel wusste, dass die Eule der Minerva ihren Flug in der Dämmerung beginnt, wie also kann der Mensch jetzt schon, am Anfang des von ihm bestimmten Erdzeitalters, wissen, wohin die Reise geht, ja dass sie überhaupt beginnt? Und kann man den Menschen so gegen die Natur stellen, als sei er nicht Teil von ihr? Oder bietet die These vom Anthropozän im Gegenteil eine Chance, den Menschen wieder als Teil der Natur zu begreifen, ist demnach eine neue Aufklärung vonnöten?

Diese Fragen sind nicht länger im Kunstkontext zu beantworten, wie schon die letzte, oft zu Unrecht lächerlich gemachte Documenta gezeigt hat, doch dort immer noch mehr als in den Colloquien der Naturwissenschaftler, denen schon die Zusammenarbeit, die Interdisziplinarität ein Gräuel ist, und den Gedanken an Transdisziplinarität kaum ertragen können.

Diesen Fragen geht daher in den folgenden zwei Jahren das Haus der Kulturen der Welt nach, auf transdisziplinären Podien, mit künstlerischen Interventionen, mit An- und Aufregern und weniger mit Unterhaltung und Belehrung. Die Liste der Eingeladenen zur Eröffnung des Anthropozän-Projekts an diesem Wochenende ist beeindruckend. Wir wünschen, nein, wir brauchen angeregte Diskussion.