Angst vor dem Abstieg

Es gibt nur ein Ziel: nicht abzustürzen. In Thomas Ostermeiers Inszenierung wird Henrik Ibsens „Hedda Gabler“ an der Berliner Schaubühne zum Porträt einer sinnentleerten Mittelklasse

VON SIMONE KAEMPF

An der Sofalandschaft hat ihr Mann nicht gespart. Aber schön hat es Hedda Gabler zu Hause noch lange nicht. Nichts Persönliches ist zu sehen, nichts liegt herum, als sei das junge Paar nur zum Probewohnen in ein Möbelschaufenster gezogen. Selbst die einsamen drei Vasen verschwinden wieder – Hobbyschützin Hedda nimmt die Staubfänger als Schießscheibe ins Visier und sammelt hinterher pedantisch die Scherben auf. Anzeichen einer zwanghaften Ordnungsliebe, die als Sublimierungsstrategie ganz gut zu den unterdrückten weiblichen Sehnsüchten passt.

Und etwas muss die Schauspielerin Katharina Schüttler auf der Bühne zu tun bekommen, damit nicht nur die innere Verzweiflung Rad schlägt. Es ist der Tag nach der Rückkehr von der Hochzeitsreise Hedda Gablers, an dem sie erkennt, dass das Lohnkonto des Angetrauten Tesman nicht glücklich macht. Und nicht mal garantiert ist: Der Lebensstandard, auf den sie schielt, gerät in Gefahr. Denn Lövborg ist in der Stadt. Einst entschied sie sich aus Angst vor gesellschaftlichem Abstieg gegen den gefährdeten Gelegenheitstrinker. Jetzt hat er das wissenschaftliche Buch verfasst, das Tesman die begehrte Professur vor der Nase wegschnappen könnte.

Wie Ibsens Drama „Nora“, das unter Thomas Ostermeiers Regie zum erfolgreichsten Stück der Schaubühne in Berlin wurde, entstammt auch „Hedda Gabler“ einer von Männern dominierten Welt förmlicher Eheverhältnisse, in denen die Frau rechtlich und ökonomisch abhängig ist. Der emotionale Stau, unter dem sie leiden, tritt dramatisch hervor, wenn die Konflikte sie zum Handeln zwingen. Nora bricht aus. Hedda bringt sich am Ende um und ergibt den theatral komplizierteren Fall, der neben Extremen wie Hass, Heuchelei und ehelicher Gereiztheit auch feinere psychologische Töne und eine größere Nähe braucht.

Wer jetzt Ostermeiers zweite Ibsen-Inszenierung sieht, muss Déjà-vu-Gefühle nicht fürchten. Der Abend umgeht den Vergleich und sucht bewusst einen anderen Weg. Dafür sorgt schon die Besetzung der Titelpartie. Katharina Schüttler schwärmt nicht wie die Nora von Anne Tismer im Edelapartment aus, um männliche Ehre und damit die Ehe zu retten, bis sie selbst deren Ende bestimmt. Die Rolle der treibenden Animateurin in der Männerwelt liegt der Schauspielerin nicht. Sie bleibt eine passiv Gefangene der Fantasmen, die ihrem eigenen Hirn entspringen. Der Bann des Unbewussten lastet auch auf der Bühne und verhindert jene scharfe Klarheit, mit der „Nora“ so hervorstach. Ein gekippter großer Spiegel im Bühnenhintergrund liefert Bilder von der Bühnenrückseite.

In der lieblosen Atmosphäre geht Hedda wie auf schwankendem Grund, tapsig im Schlafanzug, ladylike im Kleid, aber immer auf der Suche nach Haltepunkten an den heimischen vier Wänden. Genau genommen hat der Bühnenbildner Jan Pappelbaum nur zwei Wände stehen lassen und ein zugiges Apartment mit Glasterrasse gebaut. Ein grünes Sofa steht als unförmiger Block in der Mitte und macht die Menschen klein. Alles ist viel zu groß für die kammerspielartigen Szenen, die die Nahaufnahme und die Berührung suchen, aber nicht einlösen können.

Die Frage nach dem relevanten Motor des Stücks hat Regisseur Thomas Ostermeier in vielen Interviews vor der Premiere damit beantwortet, das alle aus der Angst der Mittelklasse vor dem sozialen Abstieg agieren würde. Das klingt natürlich gut. Herausgekommen ist so etwas wie ein alles schluckender Mittelklassebegriff. Der Hausfreund Brack von Jörg Hartmann ist tatsächlich so ein Wohlstandsbürger, zurückgelehnt, sattelfest, sein Selbstbewusstsein vor sich her tragend. Jörgen Tesman scheint dagegen noch zu Hause zu wohnen, wo er die mütterliche Tante pubertär und mundfaul abwimmelt. Und die Hedda von Katharina Schüttler könnte ohne Mühe in einer WG eine gute Figur machen. Das wäre vielleicht der Ort, um am Küchentisch ein paar Sinnfragen zu stellen.

Dass die Existenz am seidenen Faden des Mehr-oder-Weniger-Geld hängt, schlägt zu einer inneren Leere um, die der Abend als Last mit sich schleppt und nicht als Konfliktverstärker. Die Materialschlacht siegt. Man schaut sich jetzt Fotoalben auf dem Laptop an, telefoniert mit dem Handy und müht sich mit den schweren Glasschiebetüren bis an die Nähe zur Karikatur.

Der Wahrheitsfindung dient dann schon eher der letzte Teil. Hedda hat Lövborg eine ihrer Pistolen zugesteckt, als er über dem Verlust seines Manuskripts verzweifelte. Doch er verschwindet einfach und erfüllt nicht die „schöne Tat“, als die sich Hedda den Tod fantasierte.

Im Gegenteil: Nun rutscht sie selbst in seine Außenseiterrolle. Sie gehört nicht mehr dazu, während die anderen aus dem Zettelkasten sein Buch rekonstruieren. Von hier ist es ein kleiner Schritt, selbst die Pistole zu nehmen, im Nebenzimmer höflich die Regler hoch zu drehen und sich unbemerkt aus der Welt zu schaffen. Und so ist und bleibt Hedda die ambivalente Problemlöserin, wie Ibsen sie erfand: „Es ist schön, für ein Ziel zu streben. Sogar für einen Irrtum. Sie kann es nicht. Und erschießt sich.“