Vierte Liga, großer Traum

AUS MAGDEBURGBARBARA BOLLWAHN

„Eene, meene Miste!“, tönt die Stimme des Stadionmoderators aus den Lautsprechern. Wenige Minuten vor dem Anpfiff werden die Fans beim ersten Heimspiel der Saison auf einen neuen Schlachtruf eingestimmt. Schießt ihre Mannschaft ein Tor, sollen sie den Abzählreim ergänzen: „Es rappelt in der Kiste!“ Der Kinderspruch passt zu der Elf, die in der Oberliga Nordost Süd gegen Gegner wie den VfB 09 Pößneck spielt. Doch die blau-weißen Fans, die bei Regen im Regen stehen, weil ihr derzeitiges Stadion keine Überdachung hat, stimmen lieber ihre eigene Hymne an: „Noch sind wir die Größten auf der Welt.“

Die „Größten der Welt“, das ist der 1. FC Magdeburg. Im Dezember 1965 gegründet, ist er nicht nur der älteste Fußballclub der ehemaligen DDR, sondern auch deren erfolgreichster. Im Jahr 1974 gewann er im Endspiel des Europapokals 2:0 gegen den hoch favorisierten AC Mailand. Nach der Wende ist der dreifache DDR-Meister wie viele andere Ost-Clubs ins Amateurlager gerutscht. Weder die Qualifikation für die erste gesamtdeutsche Liga noch für die zweite Liga klappte. Zu der sportlichen Misere kamen schlechtes Management und finanzielle Probleme, schließlich der Lizenzentzug und der Zwangsabstieg in die Oberliga. Die „Größten der Welt“ sind jetzt Viertligisten und spielen vor durchschnittlich 2.000 Zuschauern im Heinrich-Germer-Stadion, wo es kein Dach, dafür aber Bier in Plastikbechern für einen Euro gibt.

Magdeburgs Traum von einer Wiederauflage des großen Fußballs begann in den 90er Jahren, als sich die Stadt als Standort für die Fußballweltmeisterschaft 2006 bewerben wollte. Doch als die Fifa die Sitzplatzzahl auf 40.000 erhöhte, zerplatzte dieser Traum. Geblieben ist der Traum von einem länderspieltauglichen Stadion, das als Trainingsquartier zur WM dienen soll. Im Sommer 2004 beschloss der Stadtrat, eine neue Arena zu errichten – an Stelle des alten Ernst-Grube-Stadions, wo in den 70er und 80er Jahren große internationale Fußballbegegnungen gegen Barcelona mit Maradona oder deutsch-deutsche Spiele gegen Schalke 04 und Bayern München stattfanden. Kostenpunkt: 30 Millionen Euro. Seit dem Sommer sind die Bauarbeiten im Gange, rechtzeitig zur Fußball-WM im nächsten Jahr soll es fertig sein. Wer die 25.800 überdachten Sitzplätze, die 600 Plätze und zehn Lounges für „very important persons“ füllen soll, bleibt abzuwarten. Fußball ist bekanntlich Glaubenssache.

Hand aufs Herz

Um in der Sprache des Fußballs zu bleiben, drängt sich die Frage auf, ob Magdeburg den Ball nicht ein bisschen flacher halten kann. Die 230.000 Einwohner zählende Stadt wird bis 2009 jedes Jahr ein Haushaltsloch von etwa 80 Millionen Euro haben. Trotzdem hat eine Mehrheit des Stadtrates, bis auf die CDU, die für eine zwei Millionen billigere Variante plädierte, den Neubau und eine Finanzierungsbeteiligung von 15 Millionen Euro beschlossen. Weil das Ganze als „Public Private Partnership“ läuft, zahlt die andere Hälfte ein Baukonzern, dessen Name zum Auf- und Abstieg des Fußballvereins passt: Hochtief, der Baukonzern aus Essen, der sich gerne als Weltmarktführer beim Sportstättenbau sieht.

Die verschuldete Stadt hat sich zudem verpflichtet, fünf Jahre lang einen jährlichen Betriebskostenzuschuss von 360.000 Euro zu zahlen und eine Bürgschaft zugunsten von Hochtief über 16 Millionen Euro zu übernehmen. Damit der Stadionbau haushaltstechnisch vertretbar ist und die Schulden verringert werden, sollen die städtischen Abwasserbetriebe und andere Vermögen verkauft werden.

Oberbürgermeister Lutz Trümper macht nicht den Eindruck, dass er das Wohl seiner Stadt vor lauter Fußballbesoffenheit aus den Augen verliert. Der gebürtiger Sachsen-Anhaltiner, der 1990 in die SPD eintrat, 1994 in den Stadtrat einzog und seit 2001 Stadtoberhaupt ist, wirkt mit seinem kurzärmligen Hemd, den bequemen braunen Lederschuhen und strubbelig abstehenden Haaren bodenständig. Der 50-Jährige versinkt im großen Sessel in seinem Büro, legt die rechte Hand aufs Herz und sagt: „Ich muss die Hoffnung auf die zweite Bundesliga haben.“ Er zählt Städte im Osten und Westen auf, die ebenfalls mit leeren Kassen und großen Bankbürgschaften teure Stadien errichten. Dass deren Mannschaften zum Teil in höheren Ligen spielen, sagt er nicht.

Ähnlich verhält es sich mit der Genehmigung der Finanzierungsbeteiligung der Stadt durch das Landesverwaltungsamt. Die Behörde hat zwar zugestimmt. Trümper erwähnt aber nicht, dass die Zustimmung nur ausnahmsweise erteilt wurde, dass ihm das Amt bescheinigt hat, dass „die dauernde Leistungsfähigkeit der Landeshauptstadt derzeit nicht gesichert ist“, dass die anvisierten Einnahmen des Business-Planes, die Zuschauerzahlen und Werbeeinnahmen „sehr ambitioniert erscheinen“, dass die Finanzierung „an den sportlichen Erfolg des hauptnutzenden Fußballvereins gebunden und daher als sehr risikobehaftet anzusehen ist“. Der Bürgermeister spricht lieber vom Image der Stadt, das durch einen Stadionneubau automatisch aufpoliert werde und verweist auf die Wirkung des Handballs, der in Magdeburg allerdings in der 1. Liga stattfindet.

Nie mehr Meuselwitz

Wie es um den 1. FCM bestellt ist, weiß Trümper gut. Vor fünf Jahren war er Vereinspräsident. „Im Nachhinein keine gute Entscheidung“, sagt er. Denn wenige Monate später wurde er als Bürgermeisterkandidat aufgestellt.

Böse Zungen behaupteten, er sei nur deshalb Vereinspräsident geworden, um seine Chancen bei der Wahl zu erhöhen. Trümper hebt zwei Finger der rechten Hand zum Schwur. „Als ich das Präsidentenamt übernahm, war von der Bürgermeisterwahl keine Rede.“ Schwerer lastet auf ihm der Vorwurf, den der Landesrechnungshof von Sachsen-Anhalt erhebt: Der Stadtratsbeschluss zur Finanzierungsbeteiligung an der Arena sei rechtswidrig. „Das ist politisch motiviert“, schimpft Trümper. Ein gewisses Risiko sei mit dem Stadion verbunden, sicher. „Aber ich halte das Risiko für vertretbar. Außerdem bauen wir das Stadion nicht für drei Jahre.“ Und wenn der 1. FCM in der Regionalliga bleibt und weiter gegen Gegner wie den ZFC Meuselwitz spielt? „Im „Crashfall“, beruhigt der Bürgermeister, bleibt das Stadion im Besitz der Stadt. Also alles im grünen Bereich für das Stadtoberhaupt.

Die Hoffnungen, die an die Arena geknüpft werden, ähneln einem Wunschzettel für den Weihnachtsmann: Das Stadion möge Arbeitsplätze bringen und einen Investor, der der Arena gegen gutes Geld seinen Namen verleiht, es möge ein Signal für Aufbruch, Aufschwung und Hoffnung sein, für Identifikation mit der Region sorgen, dem Verein als Startkapital für einen Aufstieg aus der Oberliga in die 3. oder gar 2. Liga ermöglichen, Länderspiele mit vollen Rängen bringen. Den Europapokal vor 31 Jahren hat schließlich auch niemand für möglich gehalten.

Der Einzige in dieser Fußballgeschichte, der sich ausschließlich von Fakten leiten lässt und vom Glauben abfällt, ist der Präsident des Landesrechnungshofes von Sachsen-Anhalt, Ralf Seibicke. Der 44-Jährige, der vor gut zwei Jahren seinen Posten antrat und damals der jüngste Präsident eines Landesrechnungshofes in Deutschland war, sitzt in einem nüchternen Büro der Außenstelle in Magdeburg und sagt ebenso nüchtern: „Ich bin auch Magdeburger und gönne der Stadt alles Gute.“ Er beugt sich über den dicken Ordner zum Stadion und blickt streng durch seine randlose Brille. „Aber mir fehlt der Glaube, dass das Risiko so ausgeht, wie sich die Stadt das vorstellt.“ Der Vorwurf des Bürgermeisters, seine Kritik wäre politisch motiviert, bringt ihn zum Lachen. „Das ist so albern und lächerlich, dass ich trotzdem darauf eingehen will“, sagt er und holt zu einem Vortrag über die verfassungsrechtlich unabhängige Position des Rechnungshofes aus. Fakt sei, dass der Neubau nicht wirtschaftlich sei, risikobehaftet und in dieser Größe nicht notwendig.

In seinem 50-seitigen Prüfbericht bescheinigt Seibicke dem Stadtrat, dass er „rechtswidrig“ und „nicht zulässig“ gehandelt habe. „Alles, was der Neubau an Risiken birgt, wird erst in ein paar Jahren sichtbar werden und gewaltige finanzielle Folgen für die Stadt haben“, warnt er. Kommenden Donnerstag wird sich der Stadtrat mit einer Stellungnahme zu dem Prüfbericht befassen. Wirklich gespannt ist Seibicke aber auf etwas anderes: „Ob der Stadtrat später bereit ist, eine Erhöhung der Abwassergebühren zum Preis des Stadions zu beschließen.“

Der 1. FC Magdeburg hat 34.000 Unterschriften für die Arena gesammelt und schwärmt in einem offenen Brief von der „historischen Chance“ für die Stadt. Man beschwört paradiesische Zustände, die bald herrschen könnten: neues Selbstwertgefühl, leuchtende Augen von Fußballknirpsen, singende Fans in Blau-Weiß. Hört man Bernd Hofmann zu und sieht man seine glänzenden dunkelbraunen Augen, meint man, die Fangesänge schon zu hören.

„Aber daran glaube ich“

Hofmann ist der Manager des 1. FCM. Er sitzt im grauen Anzug und weißen Hemd in der provisorischen Geschäftsstelle in einem Bürogebäude am südlichen Stadtrand, wo auch Hochtief mit seinem „Facility Management“ sich eingemietet hat. Er knüllt die mit Kaffeeflecken beschmutzte Tischdecke in den blau-weißen Vereinsfarben zusammen und legt los. „Das ist ein Stadion von Magdeburg für Magdeburg, für Sachsen-Anhalt, vielleicht für Ostdeutschland!“ Er spricht vom Businessplan, der sich schon in der 3. Liga rechne, von „der Marke 1. FCM“, die es aufzupolieren gelte, von Erhöhung der Lebensqualität, von Marktdurchdringung, vom Hype, den das Stadion auslösen werde. „Das klingt vielleicht visionär“, sagt der 36-Jährige, der vorher im Präsidium des Berliner Oberligisten FC Union war. „Aber daran glaube ich.“

Das erste Heimspiel der Saison hat der 1. FC Magdeburg 3:0 gewonnen und steht jetzt nach einem Drittel der Saison mit 25 Punkten auf Platz 1 der Oberliga Nordost Süd. Eene, meene, Miste.