piwik no script img

Massenmord von Houston

REALITY SHOW Die französische Regisseurin Gisèle Vienne inszeniert in ihrem Bühnenstück „Jerk“ im HAU 3 Splatter als minimalistische Psychostudie

Da sitzt ein erwachsener Mann in der Mitte der Bühne und gibt seltsame Schmatzgeräusche von sich. In beiden Händen hat er Handpuppen, die er passend zu seinen Glucksern onanieren und die Leichen anderer Handpuppen schänden lässt. Einmal leckt er sich selbst den Arm, ausdauernd und rhythmisch, ungefähr an der Stelle, wo sich bei der einen Handpuppe der Anus befinden könnte. Die Puppe lässt er dazu leise aufstöhnen.

„Jerk“, ein Stück für einen Schauspieler und ein paar Puppen, ist der ambitionierte Versuch der französischen Regisseurin Gisèle Vienne, Splatterfilm und transgressives Kino als minimalistische Psychostudie im HAU 3 zu inszenieren. Das Geschilderte beruht auf wahren Begebenheiten. Die sexuell aufgeladenen Blutorgien von Dean Corll werden nachgestellt, die in den Siebzigern als „Massenmord von Houston“ in die Geschichte eingegangen sind.

Corll, man nannte ihn den „Candy Man“, hatte mithilfe von Teenagern, die er für ihre Dienste bezahlte, insgesamt 27 Jungs gefangen genommen, gefoltert, vergewaltigt und getötet. Einer seiner Komplizen war David Brooks.

Wir befinden uns nun ganz nah bei David Brooks, einem lebenslangen Strafgefangenen, der etwas schüchtern und verlegen versucht, die unfassbaren Teenagermorde nachzustellen, bei denen er selbst mit dabei war. Die Ebenen verwischen schnell in diesem Stück: True-Crime als Puppenspiel, Serienmorde als Ein-Mann-Stück, unfassbare Grausamkeiten als belustigendes Kasperltheater. Gerade die Verniedlichung und Poetisierung, der man hier als Zuschauer ausgesetzt ist, sowie die gewisse Putzigkeit der masturbierenden Killerpuppen lässt die nachgestellten Lustmorde noch monströser, noch unfassbarer erscheinen.

Gisèle Vienne, die für „Jerk“ zum wiederholten Mal in ihrer Theaterarbeit einen von dem amerikanischen Schriftsteller Dennis Cooper bearbeiteten Stoff inszeniert hat, entführt einen in die Albtraumwelt einer zerrütteten menschliche Psyche. Mitten hinein geht es in ein Wirrwarr aus Verweisen zu „torture porn“-Filmen wie „Saw“, Rammstein und den homoerotisch aufgeladenen „teenage-sex-murder-lust“-Abgründen, wie man sie aus den Filmen von Larry Clark, Gus Van Sant und Gregg Araki oder eben den Roman von Dennis Cooper her kennt. Und da alles inszeniert ist wie eine psychoanalytische Therapiesitzung, lässt Sigmund Freud auch noch herzlich grüßen.

Am Ende sitzt der Schauspieler, der David Brooks darstellt, noch lange auf seinem Stuhl, und man hört die Stimmen, die durch seinen Kopf gehen. Hier denkt man natürlich an Norman Bates aus Hitchcocks „Psycho“. Am Ende weiß man trotzdem nicht, ob man nun wirklich bestürzt oder doch eher belustigt sein soll. Man war ganz nah dran am Wahnsinn, man war aber auch bloß in einem Stück, in dem ein erwachsener Mann komische Dinge mit ein paar Handpuppen angestellt hat. ANDREAS HARTMANN

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen