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: Erika Manns Kinderbuchklassiker „Stoffel fliegt übers Meer“ und Neues von Goscinnys/Sempés kleinem Nick

Das muss wirklich lange her sein: Christof Bartel vom Blaubergsee, genannt Stoffel, ist zehn Jahre alt und 36 Kilo schwer, als er seine Eltern bittet, ihn eine Reise machen zu lassen. Allein, zehn Tage lang, ohne Angabe des Reiseziels, geschweige denn der Reiseroute. Dabei ist es nicht so, dass den Eltern nicht mulmig zumute wäre. Stoffel ist ihnen alles andere als egal. Natürlich haben sie Angst um ihren Sprössling, natürlich machen sie sich Sorgen, als sie nichts von ihm hören, natürlich fließen Tränen der Freude und Erleichterung, als Stoffel endlich wieder heil zu Hause ankommt. Trotzdem, sie haben ihn ziehen lassen, schweren Herzens, aber immerhin.

1932, als Erika Manns Kinderbuchklassiker erschien, ging es in deutschen Familien anders zu als im Hotel Mama, dieser wunderbar komfortablen und auf teuflische Art wohl meinenden Freiheitsentzugsanstalt unserer Tage. Schon deshalb lohnt es sich, diese Neuausgabe zu lesen, die der Erstausgabe bis ins Detail folgt und sogar den Umschlag von Ricki Hallgarten übernommen hat. Doch auch für Literaturinteressierte ist die Lektüre bereichernd, weil sie in „Stoffel fliegt übers Meer“ studieren können, mit welchen angeblich einfachen Mitteln, richtig eingesetzt, ein großartiges Buch gelingen kann. Alles Überkandidelte und Gewollte ist diesem Kinderroman fremd. Es gibt keine Zauberei und keine Wortakrobatik, und der Plot folgt einer schlichten Chronologie der Ereignisse. Trotzdem entstehen eine Spannung und ein Lesesog, gepaart mit Herzenswärme, die den Leser bis zur letzten Zeile fesseln.

Kindern wird dieser Stil vermutlich fremd sein, aber die Träume werden sie mit Stoffel teilen. Stoffel will zu seinem reichen Onkel nach Amerika, der Stoffels Eltern, die sich in der von der Wirtschaftsdepression geplagten Heimat durchschlagen, helfen soll. Wie aber kommt ein Junge vom Blaubergsee nach Neuyork, wie die Stadt 1932 noch heißt? Er schleicht sich in den Postsack eines Zeppelins und fliegt als blinder Passagier über den Ozean. Und als wäre das nicht aufregend genug, klemmt hoch über Meer und Wolken auch noch die Höhensteuerleine. Doch alle Erwachsenen sind viel zu schwer, um zur Leine zu klettern und sie aus der Verknotung zu lösen. Das ist Stoffels Stunde. Er outet sich und klettert außen am Zeppelin entlang. Zurück kehrt er als Held, der es auf die erste Seite der New Yorker Zeitungen schafft.

Ein anderer Kinderbuchklassiker sind die Geschichten vom kleinen Nick. Anfang der Sechzigerjahre waren die ersten 160 Folgen von Texter Goscinny und Zeichner Sempé in einer französischen Regionalzeitung erschienen. Die Hälfte der Kolumnen, die von Freundschaften und Keilereien, Streichen, Zensuren und den ersten heimlichen Zigaretten erzählen, wurde später in mehr als dreißig Sprachen übersetzt und gelangte zu Weltruhm. Die 80 übrigen Kolumnen waren verschollen, bis Anne Goscinny sie zufällig bei einem Umzug entdeckte.

Und so liegen nun 80 neue Geschichten vor: Anekdoten eines Kinderlebens in den Sechzigerjahren, die vor Ironie sprühen, kombiniert mit dem zeichnerischen Witz von Sempé. Sie handeln davon, wie sich Erwachsene vergeblich bemühen, erwachsen zu sein, und wie Kinder diese kindischen Möchtegerns reinlegen. Dabei liest sich Goscinny ein bisschen wie ein französischer Axel Hacke der Wirtschaftswunderjahre. Und Sempé – nun, der ist einfach Sempé: unnachahmlich. ANGELIKA OHLAND

Erika Mann: „Stoffel fliegt übers Meer“. Mit Bildern von Richard Hallgarten. Rotfuchs im Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 2005, 127 Seiten, 9,90 EuroRené Goscinny, Jean-Jacques Sempé: „Neues vom kleinen Nick“. Deutsch von Hans Georg Lenzen. Diogenes Verlag, Zürich 2005, 638 Seiten, 24,90 Euro Goscinny, Sempé: „Der kleine Nick erlebt eine Überraschung“. 9 ausgewählte Geschichten. Diogenes Hörbuch, 1 CD, gelesen von Rufus Beck, 14,90 Euro