„Die Behörden stellen sich selbst ein Bein“

DAS WAR DIE WOCHE In Sachen Fahrradschnellstraßen ist die verschnarchte Politik endlich aufgewacht, die von Innensenator Henkel verurteilten Gesetzesbrecher sitzen nicht in den Hangars von Tempelhof, sondern im Lageso, die behördlich beklagte Flüchtlings„welle“ wird größer geredet,
als sie ist – und für die Museen Dahlem gibt es immer noch kein Nachnutzungskonzept

Ein erstes Erwachen

Schnarchige Fahrradstadt

Dringend gebraucht wird Lust, beim Thema Mobilität Zeichen zu setzen

Eine Vision geht um in Europa – die Vision von Fahrradschnellwegen. Velo-Highways, die sich leicht und elegant über Autobahnen wölben, Speed-Strecken, auf denen Radfahrer mitten in der Stadt ganz umweltfreundlich Tempo machen können. In Holland und Dänemark sind bereits Manifestationen dieser Idee zu besichtigen, für London gibt es hochfliegende Pläne von Stararchitekt Norman Foster, und zwischen Mülheim und Essen ist gerade das erste Teilstück des Radschnellwegs Ruhr eingeweiht worden, der einmal die Region auf 100 Kilometern einer alten Gütertrasse queren soll. Und die „Fahrradstadt Berlin“? Verschnarcht den Megatrend.

Okay, das ist ein bisschen ungerecht. Am Mittwoch hat der fürs Finanzielle zuständige Hauptausschuss des Abgeordnetenhauses beschlossen, im kommenden Doppelhaushalt 400.000 Euro zur Prüfung von Radschnellwegen bereitzustellen. Ein erstes Erwachen. Der Anstoß kam von der CDU, deren Steglitz-Zehlendorfer Kreisverband auch die Idee eines Rad-Highways auf der ungenutzten Stammbahntrasse unterstützt.

Geprüft wird also bald dieses innovative, aber bei Bahnfans unbeliebte Projekt, genauso wie die mit dem Ecodesign-Preis des Bundes ausgezeichnete „Radbahn“ – der Plan, unter dem Kreuzberger Viadukt der U1 den ersten überdachten Radweg Deutschlands zu schaffen.

Die „Radbahn“ ist ein grundsympathisches Projekt, auch wenn etwa der ADFC gute Argumente gegen ihre Praktikabilität ins Feld führt. Schlimm ist das nicht: Worauf es ankommt, sind frische Ideen, Mut zu überraschenden Lösungen und Lust, beim Thema Mobilität Zeichen zu setzen, gerne mit weltweiter Ausstrahlung. Ob Vorschläge dann eins zu eins umgesetzt werden, ist nebensächlich.

400.000 Euro sind ein Anfang. Aber bei der hinlänglich bekannten Unterausstattung der Berliner Radverkehrs-verwaltung und ohne FahrradbeauftragteN wird in Berlin auch weiterhin die Bremse klemmen. Claudius Prößer

Wer bricht hier die Gesetze?

Flüchtlinge und Recht

Täglich werden Rechte von Flüchtlingen gebrochen. Täter sind Berliner Behörden

„Diese Rechtsbrüche sind unerträglich und nicht hinnehmbar. Es gibt Regeln in unserem Land. Wer sich nicht daran hält, für den gibt es bei uns auch andere Unterkünfte. Mit verriegelten Türen und Fenstern.“ Das war die Reaktion von Innensenator Frank Henkel (CDU) auf eine Massenschlägerei am vergangenen Sonntag im Flughafen Tempelhof. Dort hat der Senat 2.500 Flüchtlinge in Hangars untergebracht, in Zelten, ohne Wasch- oder Duschräume, mit Dixi­-Klos draußen und ohne vernünftige Betreuung.

Ein anderes Ereignis dieser Woche wirft ein interessantes Licht auf Henkels Drohungen. 56 Flüchtlinge, die seit Tagen und Wochen vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) auf ihre Aufnahme warten, stellten am Dienstag Eilanträge beim Sozialgericht, um ihre Erfassung und Versorgung juristisch zu erwirken. Sie sind nicht die ersten: Schon im Oktober war die Zahl der Eilanträge und Klagen gegen das Lageso beim Sozialgericht um über 100 Prozent gestiegen. Die Erfolgsaussichten der Kläger und Antragsteller sind gut: Bisher wurden alle Eilanträge positiv beschieden, berichtet die Initiative „Be an Angel“, die die Flüchtlinge bei der Durchsetzung ihrer Rechte unterstützt.

Das stellt Henkels Äußerung vom Kopf auf die Füße. Denn in Berlin werden tagtäglich Rechte von Flüchtlingen gebrochen. Die Täter sind Berliner Behörden. Geflüchtete bekommen oft wochenlang nicht die Unterkunft, Versorgung, medizinische Betreuung, die ihnen laut Gesetz zusteht. Die rechtlich verankerten Mindeststandards für Flüchtlingsunterkünfte sind längst ausgehebelt. Kranke, behinderte, minderjährige Flüchtlinge bekommen nicht die Betreuung, die ihnen rechtlich zusteht.

Diese Rechtsbrüche sind für die Betroffenen unerträglich und für unsere Gesellschaft nicht hinnehmbar. Es gab einmal Regeln in unserem Land, Herr Henkel! Vielleicht sollte der Innensenator sich mal in seinem engeren Umfeld umsehen, wen er für diese Rechtsbrüche verantwortlich machen könnte. Alke Wierth

Sag mir, wo die Menschen sind

Flüchtlinge und Zahlen

Je länger das Regis­trie­ren dauert, desto länger leben die Men-schen in der Stadt

65.000 Flüchtlinge sind in diesem Jahr in Berlin angekommen. Das ist jedenfalls die Zahl, mit der Senat und Behörden den Notstand vor der Erstaufnahmestelle Lageso und die Notwendigkeit von Massenunterkünften oder Turnhallen als Schlafstätten für Flüchtlinge erklären. Doch schaut man sich die offizielle Liste der Flüchtlingsunterkünfte an, fällt ein erstaunlicher Widerspruch auf. Ende November waren dort nämlich nur 34.978 Personen untergebracht.

Wo sind die übrigen 30.000 der 65.000 Geflüchteten, mit denen Senator Mario Czaja und sein Staatssekretär Dirk Gerstle (beide CDU) ja nicht nur Mitleid wegen ihrer „Überforderung“ erregen wollen, sondern auch das Szenario einer „Flüchtlingskrise“ beklagen, die schlicht nicht zu bewältigen sei?

Tatsächlich hat das Lageso als Erstanlaufstelle für Flüchtlinge, die in Berlin ankommen, in diesem Jahr 65.000 registriert. Doch ein guter Teil davon wird direkt bei der Erstaufnahme anderen Bundesländern zugeteilt. Nach geltendem Schlüssel muss Berlin 5 Prozent der in Deutschland ankommenden Flüchtlinge aufnehmen. Bei 800.000 im Jahr 2015 sind das 40.000 was der realen Zahl schon näher kommt. Und tatsächlich nennt der Senat diese Zahl selber in der Antwort auf eine Anfrage der Grünen Canan Bayram: Genau 40.711 Flüchtlinge wurden Berlin bislang zugeteilt.

Ja: Zunächst muss Berlin mehr Menschen versorgen. Selten klappt die Verteilung am ersten Tag. Doch genau da stellen sich die überforderten Behörden selbst ein Bein: Je länger Menschen auf ihre Registrierung warten, desto länger bleiben sie in der Stadt.

Etwa 15.000 noch nicht regis­trierte Flüchtlinge gibt es derzeit in Berlin. Gelänge es dem Lageso endlich, diesen Stau abzubauen, würde sich auch die Unterbringungslage entspannen. Doch angesichts der Widersprüche zwischen Fakten und Politrhetorik drängt sich die Frage auf: Will das wirklich jemand? Oder geht es um Stimmungsmache, die sich letztlich gegen die Flüchtlinge richten wird? Alke Wierth

Ist Dahlem noch zu retten?

ETHNOLOGISCHE SAMMLUNG

Im Humboldt-Forum werden nur Teile der großen Sammlung zu sehen sein

Zwischen den Museen Dahlem in der Lansstraße und dem Rohbau des Humboldt-Forums in Mitte liegen gut und gern zehn Kilometer. Seit Dienstag ist klar, dass die Entfernung zwischen beiden Häusern geringer geworden ist. Wirft doch die Eröffnung des Humboldt-Forums 2019 ihre Schatten in Richtung Dahlem voraus.

Die weltberühmte ethnologische Sammlung wird für den Umzug an den Schlossplatz jetzt eingepackt, das Museum ab 11. Januar 2016 peu à peu geschlossen, wie Michael Eisenhauer, Chef der Staatlichen Museen, bei einem Rundgang mitteilte. Auf geht’s ins Schloss!

Und was wird aus Dahlem? Dass der Südwesten Berlins seinen bedeutendsten Kultur­stand­ort verliert, ist seit 2009 besiegelt, schmerzt aber noch immer viele Fans der Dahlemer Südsee-Bootshalle.

Ärgerlich ist zugleich, dass die Stiftung Preußischer Kulturbesitz ein Nachnutzungskonzept für den Ausstellungskomplex, der ab 1914 gebaut und in den 1960er Jahren erweitert wurde, bisher nicht vorlegen konnte. Private Interessenten oder die Freie Universität als Nutzer ­waren Fehlanzeigen. Weiten Teilen der Gemäuer drohen deshalb Leerstand und Verfall.

Dass das Ethnologische Museum fast vier Jahre lang für das Publikum geschlossen bleibt, damit bis 2019 ein 32 Millionen Euro teurer Umzug gestemmt werden kann, ist schon schwer genug nachzuvollziehen. Sicher, 20.000 Objekte der Weltkultur – darunter ganze Höhlen aus China, Wohnhäuser aus Ozeanien, Zelte, Tempel, Marterpfähle amerikanischer Kulturen – zu restaurieren und zu verpacken, das braucht Zeit.

Doch im Humboldt-Forum werden nur Teile der Objektsammlungen zu sehen sein. Nur 6 der 11 Boote werden am Schlossplatz ausgestellt, die Hälfte des Pazifikbestands wandert wohl ins Depot. Die Südamerika- und die Nordamerika-Abteilung werden ebenfalls kleiner.

Wäre es da nicht ein kluger Zug der Stiftung, die zeitlichen und räumlichen Defizite auszugleichen? Während der Umzugszeit könnten beispielsweise ethnologische Forschungs- oder Sonderschauen in der riesigen Eingangshalle Dahlems gezeigt werden. Und könnte nicht all das, was nicht im Humboldt-Forum zu sehen sein wird, in Dahlem von Zeit zu Zeit, jedenfalls bis die Nachnutzung feststeht, präsentiert werden?

Ja, ja, das liebe Geld, heißt es jetzt gleich. Aber ist ein Leerstand Dahlems wirklich billiger?

ROLF LAUTENSCHLÄGER