Nachtleben für einen Monat

Was sonst nur die Erinnerung an das vierte Pflichtgebet des Tages ist, ist im islamischen Fastenmonat das erlösende Signal: Ab jetzt darf wieder gegessen werden. Der kollektive Ausnahmezustand schließt im Jemen auch Touristen mit ein

VON SUSANNE SPORRER
UND KLAUS HEYMACH

Die Stimmung ist angespannt, das Gedränge kaum zu ertragen. „Sambusas!“ , „Datteln!“, „Maulbeersaft!“, schreien die fliegenden Händler. Kurz nach halb sechs am Abend auf dem Suk asch-Scha’ub, einem Gemüsemarkt in der Altstadt von Sanaa. In zehn Minuten wird die Fastenpflicht für diesen Tag erfüllt sei. Schnell nach Hause! Hektisch werfen Kinder blaue Plastikplanen über ihr Sammelsurium an chinesischem Plastikkram, mit 25-Gramm-Gewichten werden die letzten Datteln abgewogen. Auf den Straßen sind die Autohupen im Dauereinsatz, in diesen Minuten passieren die meisten Unfälle des Jahres.

Endlich knistern die Lautsprecher auf dem Minarett nebenan. Der erste Muezzin beginnt zu rufen, im Sekundentakt stimmen dutzende weitere ein. „Gott ist groß“, tönt es in der graublauen Abenddämmerung über die jahrhundertealten Wohntürme aus gebrannten Lehmziegeln hinweg. Ab jetzt darf wieder gegessen, getrunken, geraucht werden. Wie ein Freudenschuss erschallt vom fast 3.000 Meter hohen Berg Nukum über der Stadt der Knall aus einer Kanone. Mit einem Schlag kehrt gespenstische Ruhe in den Straßen ein.

Nurs Hauptbeschäftigung im heiligen Monat ist das Kochen. Jedes Iftar, die erste Mahlzeit am Abend, wird zum Festessen. Ihr jüngerer Bruder Achmed, der einzige Mann im Haus, deckt die Tafel: Auf dem grauen Teppichboden im Flur zwischen Küche und Klo breitet er eine Plastikplane aus, darauf stapelt er Berge von Essen in Plastikschälchen. Sambusas, die mit Fleisch gefüllten dreieckigen Teigtaschen, Schafut, das Pfannkuchenbrot in Jogurtsoße, und frittierte Teigbällchen gehören zu jedem Fastenbrechen. Nur hat auch noch Huhn und Reis und Zimtfleischsuppe und dreierlei Nachspeisen gekocht, natürlich ohne auch nur eine Fingerspitze davon zu kosten, um nicht das Fasten vorzeitig zu brechen. Wer soll das alles essen? Oft bringt Achmed aus der Moschee Gäste zum Iftar mit. Seine Schwester bleibt dann in der Küche, um den fremden Männern nicht zu begegnen.

Wer keine Einladung zum Iftar hat, ist ab sechs Uhr ein einsamer Mensch. Zur Essenszeit sind die schwach mit gelben Laternen beleuchteten Altstadtgassen menschenleer. Aus den festungsartigen Häusern dringt Geschirrgeklapper, aus den Fenstern schimmert das blaue Licht der Fernseher. Die TV-Anstalten der arabischen Welt haben dutzende neue Seifenopern produziert, deren Folgen genau vom ersten bis zum letzten Tag des Fastenmonats laufen.

Satt und gut gelaunt tauchen gegen acht Uhr wieder die ersten Männer auf den Straßen auf, mit einer Tüte voll grüner Katblätter in der Hand; auch auf dieses berauschende Vergnügen mussten sie tagsüber verzichten. Der 16 Jahre alte Faris schließt das Tor zu seiner Lebensmittelbude auf. Er strahlt ob des gerade wieder gefüllten Magens und schwärmt vom schönen Ramadan wie ein Kind von Weihnachten. Was sich in den kommenden Stunden in Sanaa abspielt, erinnert an den Kaufrausch in der Adventszeit.

Vor dem Stadttor Bab al-Jemen, wo fliegende Händler sonst vier oder fünf über die Schulter geworfene Jacketts feilbieten, die die Männer zu Rock und Krummdolch tragen, sind am Straßenrand meterlange Kleiderstangen aufgebaut. Schuh- und Tuchverkäufer nutzen jeden Quadratmeter, um ihr Sortiment auf dem Boden auszubreiten. Wenn nächste Woche der Ramadan endet und das Fest Id al-Fitr beginnt, wird die Läuterung durch das Fasten mit neuer Kleidung symbolisiert. Auch Kühlschränke und Schlafzimmereinrichtungen werden bis weit nach Mitternacht verkauft. Im Ramadan wird nicht geheiratet, danach aber umso mehr, weshalb sich die Möbel- und Elektroläden einen Monat lang über beste Umsätze freuen.

Bis auf die Augen schwarz verschleierte Frauen, die in dem konservativen Land sonst meist mit der Dämmerung im Haus verschwinden, bummeln um zwei Uhr morgens mit ihren Freundinnen fröhlich durch die Geschäfte. Und selbst kleine Kinder machen sich um diese Zeit noch einen Spaß daraus, Passanten mit ihren Knallfröschen zu erschrecken.

Der wahre Sinn des Ramadan gerate in Vergessenheit, statt der Besinnung widmeten sich die Menschen dem Konsum, mahnen die Zeitungen in ihren Leitartikeln: Was für ein Opfer sei das noch, den Tag zu verschlafen, um sich nachts der Völlerei hinzugeben. Das sehen auch Achmed und Hussein so. Der Student hält sich beim Fastenbrechen sehr zurück, verrichtet sein Gebet und macht Hausaufgaben, um dann bis vier Uhr morgens im Koran zu lesen. Der 70-jährige Hussein verbringt die Ramadannächte im Diwan seines Vaters, des früheren Muftis im Jemen, wo er mit gelehrten alten Männern die Scharia, das islamische Recht, studiert.

Egal ob sie die Nacht mit Beten oder mit Einkaufen verbracht haben, der Kanonenschuss in der Morgendämmerung ist für alle das Zeichen für einen neuen Fastentag. Vor dem Morgengebet haben sich die meisten noch einmal gestärkt, jetzt gehen sie schlafen. Am Vormittag gehört die Stadt den wenigen Touristen, die sich den Ramadan für ihre Reise in den Jemen ausgesucht haben. Breite Straßen, für deren Überquerung ansonsten viel Mut nötig ist, werden zu verlassenen Fußgängerzonen. Wer ein Weltkulturerbe für sich allein haben möchte, hat jetzt die Gelegenheit, ungestört durch ein Stück Mittelalter zu spazieren.

Zwei Stunden später als sonst, um zehn, müssten die Beamten eigentlich im Büro erscheinen, inoffiziell sind die Arbeitszeiten in den meisten Ämtern aber auf ein, zwei Stunden zur Mittagszeit verkürzt. Auch Schüler und Studenten geben sich eigenmächtig nach spätestens zwei Wochen Ramadan-Ferien. Für alle Fehler, für jede Verspätung gibt es jetzt eine allseits akzeptierte Entschuldigung: „Es ist Ramadan.“ Kollektiver Ausnahmezustand. Der schließt auch Ausländer ein. Wer es wagt, tagsüber in der Öffentlichkeit auch nur einen Schluck Wasser zu trinken, erntet böse Blicke. Eine höfliche Notlüge ist aber auch im Ramadan erlaubt.