Stein von Herzen

Herdanziehung Kubismus in der Küche: Der Versuch, Dominosteine selbst zu machen, endete geometrisch zwar nur mäßig präzise, hat aber trotzdem überzeugt

Die Quadratur des Köstlichen artete zwischenzeitlich in eine ziemlich große Sauerei aus Foto: Uwe Norkus/Zoonar.com

Von Denny Carl

Eigentlich mag ich Dominosteine nicht. Sie sind mir seit jeher viel zu langweilig und konnten mir nie überzeugend vermitteln, weshalb sie ein so unabdingbarer Bestandteil weihnachtlicher Verköstigung sind. Daher dienten mir Dominosteine bisher allenfalls zur Errichtung eines Schutzwalls gegen Räuber, die es auf die wahren Delikatessen meiner verzehrbaren Gaben abgesehen hatten. Doch nun stehe ich in meiner Küche, um diese in einen Steinbruch umzuwidmen. Ich wage den Selbstversuch: Es muss etwas geben, was diese Tradition so besonders macht. Etwas, das die Dominosteinindustrie aus ihren genormten Saisonartikeln entfernt hat.

Wer Dominogestein nicht im Ganzen verschlingt, erkennt rasch, dass es aus mindestens drei Ebenen besteht: aus Lebkuchen, Fruchtgelee und Marzipan. Mit dem Teig beginnt meine Schichtarbeit – und stockt jäh: Verlangt man ernsthaft von mir, in dem riesigen Honigozean noch eine Insel aus Zucker zu errichten? Oder hat mir der betörende Duft des Lebkuchengewürzes die Sinne vernebelt? Ich süße nur behutsam. Die geschmolzene Butter verleiht der Masse anschließend fast schon Leichtigkeit. Aus Mehl, Eiern, Gewürzen und Kakao entsteht eine sämige Masse, die auf ein mit Backpapier tapeziertes Blech sehr flach zum Erliegen kommt. Möge das im Teig enthaltende Hirschhornsalz, welches einst wirklich aus Geweihen gewonnen wurde, daraus einen großen Pfefferkuchen wachsen lassen.

Eine Viertelstunde später entnehme ich dem Ofen eine herrlich duftende Teigplatte, die in jedem Baustoffhandel für Hexenhäuser stehen könnte. Während der Boden abkühlt und tragfähig wird, sorge ich mich um die Mittelschicht. Hier ist erlaubt, was das Marmeladenregal hergibt: von Aprikose, Kirsche und Johannisbeere über Apfel und Pflaume bis hin zu Schlehe, Holunder und bitterer Orange. Zu großen Fruchtstücken sollte man jedoch mit dem Pürierstab deutlich machen, dass sie nicht in den Dominostein passen werden.

Eine mutige Entscheidung

Meine Wahl fällt auf Omas selbstgemachtes Quittengelee. Das ist mutig, denn wenn das schiefgeht, wäre ich sehr traurig. Zitronensaft und -schale bringen Säure und Frische. Kann ausgeschlossen werden, dass die Steine nicht die Gaumen kleiner Leckermäuler pflastern werden, ist auch ein Spritzer feinen Obstbrandes denkbar. Damit die Fruchtetage später nicht kollabiert, wird ihr nun mit Geliermittel die nötige Statik verpasst. Eine gute Gele(e)genheit, anstatt Gelatine pflanzliches Agar-Agar zu verwenden. Denn wer hat schon gern Knochen im Weihnachtsgebäck? (Dazu mehr auf Seite 49.)

Ein Teelöffel des Pulvers – bei sauren Früchten etwas mehr – kommt zu den Quitten in den Topf. Im Gegensatz zum empfindlichen Kollagen unserer Nutztiere braucht Agar-Agar ordentlich Hitze. Nach wenigen Minuten ergießt sich die goldene Flüssigkeit auf das kalte Lebkuchenfundament und darf nun über Nacht erstarren. Am nächsten Morgen bestaune ich ein festes, bernsteinartiges Gelee, das noch dutzende Schichten tragen könnte. Glück gehabt.

Bange Frage: Wie bekomme ich die zerbrechliche Schicht nun auf das Gelee?

Für das Obergeschoss wickle ich ein massives Stück Marzipan aus und widerstehe gerade so der Versuchung, meine Zähne darin zu versenken. Mit gerösteten gehackten Walnüssen und einem optionalen Schuss Rum vermengt, walze ich die Masse auf Maß. Nur wie bekomme ich die zerbrechliche Schicht nun auf das Gelee? Mein Wehklagen vernehmend, schwebt sogleich ein Vorweihnachtsengel, den ich auch außerhalb der Saison bei mir beherberge, herbei und bietet mir ein zusätzliches Paar Hände an. So wird die Marzipanfliese rasch verlegt. Singles und Besitzer von Frischhaltefolie können das Marzipan auf ebenjene Folie auftragen und dann stürzen. Längst verloren geglaubte mathematische Fähigkeiten, ein Lineal und ein scharfes Messer helfen dann bei der Würfelwerdung.

An dieser Stelle verlässt die Berichterstattung aus meiner Manufaktur ihren harmonischen Grundton. Um es kurz zu machen: Das anschließende Tunken der Quader in der im Wasserbad bei Körpertemperatur geschmolzenen Zartbitter-Kuvertüre ist eine einzige Sauerei. Mehr noch: Das Balancieren der sensiblen Türmchen in den Schokosumpf erweist sich als nervenaufreibend. Als selbst das Ablecken schokoladierter Finger an Attraktivität verliert, spüre ich Stress. Dieser ganze Feiertagszinnober. Ist doch eh alles nur noch Kommerz. Nie wieder Weihnachten!

Mit akzeptablem Ruhepuls betrachte ich später mein Werk. Nein, hübsch sind sie nicht. Sie sind schief und krumm, haben Kuvertürenasen. Aber es sind meine. Als ich den ersten probiere, trübt sich meine Freude ein. Ich brauche anderes Baumaterial für meinen Schutzwall – gegen Dominosteinräuber.