In Belgien stehen die Räder einen Tag still

Seltene Einigkeit der Gewerkschaften ermöglicht Generalstreik gegen Anhebung der Frühpensionsgrenze

BRÜSSEL taz ■ Über den Straßen der großen belgischen Städte lag gestern ungewöhnliche Ruhe: Auf den Autobahnen rund um die Hauptstadt Brüssel blieb der übliche Stau im Berufsverkehr aus. Kein Bus, keine Straßenbahn rührte sich vom Fleck. Das ganze Land schien in einen vorzeitigen Winterschlaf gefallen zu sein.

Die Erklärung fand sich in der Brüsseler Innenstadt: Dort demonstrierten bis zu 100.000 Menschen gegen die Pläne der Regierung, die Frühpensionierung einzuschränken. Nach dem Willen von Premierminister Guy Verhofstadt soll die nämlich von 58 auf 60 Jahre angehoben werden. Um die Rentenkassen zu füllen, sollen alle Belgier mindestens 30 Jahre arbeiten, bevor sie einen vollen Rentenanspruch erhalten. Das ist Teil eines „Solidaritätspakts“, den die Regierung vor einigen Wochen verabschiedete. Er soll das Sozialsystem für künftige Generationen sichern.

„Dieser Pakt hat mit Solidarität nichts zu tun“, meint dagegen Jean-Claude Vandermeeren von der Gewerkschaft FGTB. Es sei nicht richtig, dass die Alten länger arbeiten, obwohl die Jugendarbeitslosigkeit bei 19 Prozent liegt. Gemeinsam mit den beiden anderen großen Gewerkschaften CSC und CGSLB hatte die Föderation der belgischen Arbeitnehmer deshalb gestern zum 24-stündigen Generalstreik aufgerufen.

Erstmals seit 30 Jahren schlossen sich damit alle Gewerkschaften zu einer Aktion zusammen. „Es ist eine historische Demonstration. Die Regierung kann ihre Augen davor nicht verschließen“, sagte Vandermeeren. Tatsächlich hat Belgien bisher selten einen solch massiven Streik erlebt. Die FGTB hatte schon Anfang Oktober zur Arbeitsniederlegung geblasen, aber nur rund 25 Prozent der Betriebe waren betroffen. Gestern sah das anders aus. Im ganzen Land wurde flächendeckend gestreikt. Die regionalen Flughäfen von Charleroi und Lüttich blieben geschlossen. Das galt auch für große Teile der Metall- und Chemieindustrie. Sogar das Fernsehprogramm lief nur auf Sparflamme. Und Züge fuhren lediglich, um die Demonstranten aus dem ganzen Land nach Brüssel zu bringen. Die Vereinigung der Arbeitgeber rechnet allein für die Hauptstadt mit einem Verlust von 200 Millionen Euro für die Unternehmen.

Wie viel Geld insgesamt verloren geht, war gestern noch unklar. Allerdings schätzte der Arbeitgeberverband, dass der Streik die Privatwirtschaft bis zu 600 Millionen Euro kosten könnte. Die Arbeitgeber hatten das Vorgehen der Gewerkschaften vehement kritisiert. Sie befürchteten Ausschreitungen und Blockaden in ihren Betriebe. Der Chef des Arbeitgeberverbands Olivier Willocx überflog gestern Brüssel in einem Hubschrauber, um illegale Aktionen zu fotografieren und der Polizei zu melden. Der Flug allein kostete 8.000 Euro. und der Streik verlief entgegen der Erwartungen ohne nennenswerte Zwischenfälle.

Premier Verhofstadt hatte sich bis gestern Nachmittag noch nicht zu möglichen Konsequenzen des Streiks geäußert. Aber er hatte zuvor schon angekündigt, an seinen Plänen festhalten zu wollen. Die Gewerkschaften drohen bereits mit weiteren Streiks. CLARA ROSENBACH