In nächster Nähe zur Perfektion

TENNIS Novak Djokovic beendet mit seinem Sieg beim ATP-World-Tour-Finale eine Saison voller Rekorde. Ein Trost für die Konkurrenz: Eine derartige Dominanz lässt sich kaum aufrechterhalten

Ein Mix aus Effektivität, Ausdauer, mentaler Stärke: N. Djokovic  Foto: dpa

LONDON taz | Vor ein paar Tagen hatte ihn jemand gefragt, ob er das Gefühl habe, in einer eigenen Liga zu spielen. Nein, hatte Novak Djokovic geantwortet, so sehe er das nicht. „Es wäre ja arrogant, das zu sagen.“ Gut, lassen wir ihm die staatsmännische Zurückhaltung, aber wie soll man die Sache sonst nennen, wenn er sich zum Ende eines Jahres, in dem er schon drei Grand-Slam-Turniere und insgesamt zehn Titel gewonnen hatte, auch den großen Silberpokal bei den ATP Tour Finals schnappt? Wenn er mit so großem Vorsprung an der Spitze der Weltrangliste steht, dass er ein halbes Jahr auf der Terrasse in der Hängematte liegen könnte und immer noch vorn wäre? Wenn er selbst in komplizierten Situationen kaum zu erschüttern ist, so wie im letzten Spiel des Jahres beim 6:3, 6:4-Sieg gegen Roger Federer?

Nicht zu packen, dieser Typ. Selbst Boris Becker, der seinen Mann mit Tränen in den Augen siegen sah, kann sich die Dominanz nur schwer erklären. „Ich habe Novak sehr gut kennengelernt, ich schätze und respektiere ihn“, sagt er, „aber ich weiß nicht, wie er das manchmal schafft. Er war körperlich am Ende nach der langen Saison, dann kommt er in die Halle rein, die Atmosphäre packt ihn, und danach spielt er in einem emotionalen Wahnsinn. Danach fällt er in der Umkleidekabine wieder in sich zusammen und kann kaum nach Hause laufen, so kaputt ist er. Er ist ein außergewöhnlicher Spieler, ein außergewöhnlicher Mensch.“

Im Moment sieht es so aus, als sei dieser Mensch durch nichts zu erschüttern. Die Portion an Zuversicht, mit der er sich in die Ferien verabschiedete, die Gattin im Arm, ist riesengroß. Siege sind die beste Grundlage für weitere Siege, und natürlich müssen sich die Konkurrenten fragen, ob das so weitergehen kann. Rafael Nadal meinte neulich, er könne Djokovic zu all den Erfolgen in diesem Jahr nur gratulieren und ihm fürs nächste nicht auch noch alles Gute wünschen. Aber zum Glück könne der andere ja nun nicht mehr viel besser werden.

Kann er nicht? „Man muss auch mal die Kirche im Dorf lassen“, findet Becker. „Gegen die Besten der Welt so zu dominieren ist nicht normal. Man kann nicht glauben, dass das nächstes Jahr noch viel besser werden kann, das ist unrealistisch.“

Es gab ein einziges Turnier in diesem Jahr, bei dem Djokovic nicht das Finale erreichte – gleich das erste im Januar in Doha, danach landete er in 15 Finals, und das gab es in der Zeit des Profitennis noch nie. Und er gewann ja nicht gegen irgendwen, sondern gegen die besten Konkurrenten, die man haben kann. Vor allem Roger Federer, der deutlich besser und erfolgreicher spielte als im Jahr zuvor und der allen jungen Leuten in diesem Job als Beispiel dafür gelten sollte, dass die Suche nach dem Besten selbst auf allerhöchstem Niveau nach vielen Jahren nicht aufhören darf. 30 Siege gegen Top-Ten-Spieler stehen in der Djokovic’schen Bilanz des Jahres 2015, auch das eine einmalige Zahl. Nicht zu reden von der Höhe des Preisgeldes, knapp 21,6 Millionen Dollar.

Es gab ein einziges Turnier in diesem Jahr, bei dem er nicht das Finale erreichte

Die Mischung aus Effektivität, Ausdauer, mentaler Stärke und Entschlossenheit fügt sich zu einem bemerkenswerten Paket zusammen. Perfektion ist ja bekanntlich im Sport kaum zu erreichen, aber in vielen Momenten dieses Jahres hatte es so ausgesehen, als sei Novak Djokovic ziemlich nah dran.

Boris Becker hatte anno 92 an seinem Geburtstag den Titel beim Turnier der Besten gewonnen, damals in Frankfurt. An seinem 48. sah er nun jenen Mann siegen, der ihn vor knapp zwei Jahren zur allgemeinen Überraschung ins Team geholt hatte. Auch für Becker war es ein großartiges, anstrengendes Jahr, und auch er freut sich auf eine kleine Pause. Aber seine Bilanz nach den knapp zwei Jahren an der Seite der Nummer eins könnte kaum positiver sein. „Ich wusste, das ist ’ne große Herausforderung, das kann auch schiefgehen, denn wenn er verliert, bin ich schuld. Wir beide hatten unsere Vorstellungen, und ich glaube, wir beide hatten nicht erwartet, dass es so gut läuft.“ Besser, siehe oben, wird schwer. Doris Henkel