Chaos als Chance

Schwerpunkt Das Festival „Nordwind“ rückt Kunst aus Russland in den Fokus. Zu sehen ist unter anderem die weltwelt erste Retrospektive des Aktionskünstlers Piotr Pawlenski

Piotr Pawleski schafft drastische Bilder: Aus Protest gegen die Pussy-Riot-Festnahmen hat er sich den Mund zugenäht   Foto: Piotr Pawlenski

von Robert Matthies

Mit drastischen Aktionen sorgt Piotr Pawlenski für Schlagzeilen. Den Mund hat sich der russische Künstler 2012 aus Solidarität mit den verhafteten Mitgliedern der Band Pussy Riot zugenäht. Ein Jahr später legte er sich nackt und in Stacheldraht gewickelt vor ein Regierungsgebäude in St. Petersburg, aus Protest gegen ein System, in dem „jede Bewegung eine gewaltsame Reaktion des Gesetzes zur Folge hat“. Ende 2013 nagelte Pawlenski seinen Hodensack auf dem Roten Platz in Moskau fest, um gegen die Gleichgültigkeit seiner Landsleute und korrupte Polizisten zu protestieren.

Im Oktober vergangenen Jahres dann schnitt er sich wie van Gogh ein Ohrläppchen ab, während er nackt auf dem Dach des Moskauer Serbski-Institutes für Sozial- und Gerichtspsy­chiatrie saß. „Das Messer trennt das Ohrläppchen vom Körper. Die Betonwand der Psychiatrie trennt die Gesellschaft der Vernünftigen von den unvernünftig Kranken“, begründete Pawlenskis Partnerin Oxana Schalygina die Aktion.

Hintergrund ist, dass in Russland psychiatrische Diagnosen immer wieder für politische Zwecke missbraucht werden. Auch Pawlenski wurde nach einer seiner Aktionen begutachtet, um eine gerichtliche Zwangseinweisung zu bewirken: Zwei Psychiater befanden, der Mann sei krank, einer hielt ihn für gesund.

Bei seiner aktuellen Aktion hat Pawlenski sich nun zum ersten Mal nicht selbst verletzt. Vor knapp zwei Wochen schüttete er Benzin auf die Eingangstür der Zentrale des Inlandsgeheimdienstes FSB an der Moskauer Lubjanka, zündete die Tür an – und wartete mit dem Kanister in der Hand auf seine Festnahme. Die Reaktion der Autoritäten ist einkalkuliert, gehört untrennbar zum Kunstwerk: Stets lässt sich Pawlenski widerstandlos festnehmen, bleibt damit Opfer.

Mit der Aktion wolle er gegen den „unbegrenzten Terror“ des FSB protestieren, erklärte Pawlenski. Ein Video auf der Internetplattform „Vimeo“ dokumentierte die Aktion, einen Tag später war es verschwunden, Pawlenskis Account gesperrt. Jetzt sitzt der 31-Jährige in Untersuchungshaft, drei Jahre Haft drohen ihm, wegen „Vandalismus, motiviert durch politischen und ideologischen Hass“. Ungewiss ist nun, ob Pawlenski wie geplant zur Eröffnung der weltweit ersten Retrospektive seiner Arbeiten im Rahmen des Festivals „Nordwind“ auf Kampnagel kommen kann. Dazu mag sich Festivalleiterin Ricarda Ciontos noch nicht endgültig äußern.

Ab Freitag ist die Ausstellung unter dem Titel „Figures of Silence“ im Foyer der Kulturfabrik zu sehen. Videos, Bilder und Dokumente von Pawlenskis Aktionen sind dabei ebenso Teil der Ausstellung wie Reaktionen von Medien und Justiz.

Erstmals bezieht das „Nordwind“-Festival, das in Berlin, Dresden, Bern und Hamburg zum sechsten Mal herausragende Arbeiten aus der nordeuropäischen und baltischen Performance-, Musik- und Kunstszene präsentiert, auch Russland und andere Staaten der ehemaligen Sowjetunion ein. Unter dem Motto „Balagan!!! – Zones of Resistance“ stehen dabei Produktionen im Fokus, die Bezug auf aktuelle gesellschaftliche Krisen und Zustände nehmen und zugleich als künstlerische Strategien in Zeiten des Umbruchs eine spielerisch-anarchische Verkehrung dieser Zustände vornehmen: In der russischen Umgangssprache steht „Balagan“ für das Durcheinander, in das man sich voller Begeisterung stürzt.

Zu sehen ist in Hamburg ab Freitag neben der Pawlenski-Retrospektive und einer Ausstellung, die Einblicke in aktuelle bildende Kunst in Russland gibt, eine Auswahl von Theater-, Tanz- und Performance-Stücken aus Russland, Deutschland und Skandinavien.

Die sind im besten Sinne radikal gegenwärtig: In Olga Jitlinas Stück „Translation“ etwa singen Opernsänger Asylanträge als Arien, um ihnen mehr Überzeugungskraft zu verleihen. Die Idee dahinter: Europäern die Fülle an Tragödien, Hoffnungen und Illusionen besser verständlich zu machen.

Fr, 27. 11., bis Sa, 5. 12., Kampnagel