Flucht vor Assads Bomben

Die Schüsse im Kopf verhallen nicht. Azad Hamoto ist mit seiner Familie aus der syrischen Metropole Aleppo geflohen, seit drei Monaten lebt die Familie nun bei Freunden. Doch der Krieg holt sie immer wieder ein

von Katharina Mayer

Das Trauma ist ihm nicht ins Gesicht geschrieben. Es steckt tiefer. Freundlich und heiter begrüßt Azad Hamoto die Gäste. Aus einem Nebenzimmer kommen die drei Kinder, kuscheln sich neben den Vater auf das Sofa im Wohnzimmer, begutachten neugierig das Handwerkszeug des Fotografen, während die Mutter Gebäck, Nüsse und Tee bringt. Gastfreundschaft wird in Syrien großgeschrieben, in dem Land, das er als Heimat verloren hat, weil es im Bürgerkrieg versinkt.

Dass Azad Hamoto nach abenteuerlicher Flucht auf einem Stuttgarter Sofa sitzt, ist eng mit seiner Geschichte verbunden. Der 58-Jährige hat in Frankfurt und Berlin studiert. „Fachgerecht ausgedrückt, Altorientalische Altertumskunde.“ Hamoto spricht präzise, er ist Wissenschaftler. Nach der Promotion hat Dr. Hamoto noch ein Studium der Kunstgeschichte und Soziologie angehängt. 1997, bereits deutscher Staatsbürger, ist er nach Syrien zurückgegangen, in seine Heimatstadt Aleppo. Dort arbeitete er als Stadtsanierer, als Reiseleiter für Studiosus, als Hochschul-Dozent. Er veröffentlichte Bücher und Artikel, baute in der weltberühmten Altstadt eine Anlaufstelle für Kulturschaffende aus aller Welt auf.

Der Wissenschaftler weiß, dass er ein privilegierter Flüchtling ist. Andere haben keine Freunde in Deutschland und kein Geld, um ihre Flucht zu organisieren. Rund eine halbe Million Menschen sind nach UN-Angaben bereits aus dem Land geflohen. Sie leben überwiegend in Lagern, an der türkischen Grenze, im Libanon, in Jordanien, im Irak – unter oft katastrophalen Bedingungen.

Auch Hamotos Leben wurde zerstört von einem Bürgerkrieg, der immer neue Eskalationsstufen erreicht. „Seid mutig, geht auf die Straße“, hat der Dozent seine Studenten ermuntert, als der Arabische Frühling in Syrien ankam und syrische Jugendliche begannen, das Regime Baschar al-Assads offen zu kritisieren.

„Der gesamte Arabische Frühling hat mit Frühling nichts zu tun“, sagt Hamoto. Er habe in einem November begonnen, 2010. Auch bei Kleinigkeiten ist der Wissenschaftler genau, lächelt über die blumige Worthülse für den Ruf nach Reformen, der von Tunesien aus große Teile der arabischen Welt erfasst hat. Mehr Freiheit, Arbeit, ökonomische Sicherheit, die Forderungen waren überall dieselben, die Reaktionen der Mächtigen auch. „Es begann als soziale Jugendbewegung, dann wurde sie politisiert“, sagt Hamoto.

„Es ist nicht unpolitisch und war es nie, in Syrien auf die Straße zu gehen“, sagt André Bank, Politologe am German Institute of Global and Area Studies in Hamburg: Der Ruf nach politischen Freiheiten, einer Wahlrechtsreform, nach einem Ende des Politikmonopols der herrschenden Baath-Partei – all das seien „höchst politische Forderungen“. Und „es ging immer auch stark um ökonomische Aspekte“ – die wirtschaftlichen Forderungen allerdings gehen in der Wahrnehmung des Konflikts unter, der Ruf nach einem Ende des Regimes steht im Vordergrund.

Geschätzte 60.000 Tote hat der Krieg bisher gefordert. „Eine weitere Brutalisierung ist nicht auszuschließen“, sagt der Politologe Bank. Diese Angst hat auch Azad Hamoto zur Flucht bewegt. Lange sei es ruhig gewesen in Aleppo. Die Einschläge der Bomben hörte er anfangs nur aus der Ferne, das Leben ging weiter. Hamoto unterrichtete, die Kinder gingen zur Schule. Ab und an habe er Besuch vom Geheimdienst bekommen, freundliche Herren, die ihm zu verstehen gaben, dass sie nicht billigten, was er seinen Studenten sagte. „Es bestand keine direkte Lebensgefahr für mich, aber ich wusste, im Laufe der Zeit wird es so weit sein“, sagt Hamoto ruhig, den Ellbogen auf die Sofalehne gestützt, der Kopf ruht auf der Hand. Er wollte in Syrien bleiben, hoffte lange, zu lange. Irgendwann war auch ihm klar, dass nur die Flucht blieb.

Da war es fast zu spät. An der Grenze wurde die Familie angehalten. „Herr Doktor, Sie stehen auf meiner Liste, Sie dürfen hier nicht raus“, sagte der Zöllner. Hamoto verschanzt sich hinter verschränkten Armen und sagt, das Problem habe sich mit Geld lösen lassen. In der Nähe der türkischen Stadt Iskenderun bezog die Familie das Ferienhäuschen eines Freundes. Der lang aufgeschobene Urlaub sei das für die Kinder gewesen, 3, 10 und 12 Jahre alt. Tatsächlich warteten die Eltern auf das Visum. Anders als Hamoto und die gemeinsamen Kinder hat die Mutter keine deutsche Staatsbürgerschaft. „Nach drei Wochen stand uns das Strandleben bis zum Hals“, sagt Hamoto, die Untätigkeit, die Ungewissheit, der Stillstand quälten ihn.

Währenddessen eskalierte der Kampf um Aleppo. Regierungstruppen griffen die Stadt mit Raketen und Bomben an, ein Feuersturm fegte über die Stadt. Die Rebellen rächten sich, Human Rights Watch meldete Massaker an Assad-Anhängern. Strom, Wasser, Nahrung sind kaum verfügbar und nur unter Lebensgefahr zu bekommen: Immer wieder fliegen Assads Truppen Luftangriffe auf Bäckereien, vor denen Menschen in langen Warteschlangen stehen. Bei einem solchen Bombardement starben im Dezember in dem Dorf Halfaya bis zu 200 Menschen.

Hamoto und seine Familie haben die Bombenangriffe miterlebt. Sie kehrten zurück nach Aleppo, um das Auto zurückzulassen. Für eine Flucht nach Deutschland hätte Hamotos Frau Visa für jedes einzelne Land gebraucht, ein bürokratischer Kraftakt, unmöglich. Hamoto entschied sich, das Auto zu seinem Schwager nach Aleppo zu bringen. Eine folgenschwere Entscheidung. In seinen präzisen, nüchternen Worten erzählt er die Geschichte jener „zweiten Flucht“. Seine Gesten werden kantig und unkontrolliert, die Augen weiten sich, der Schrecken des Krieges spiegelt sich nun in seinem Gesicht wider. „Diese Fahrt war ein Albtraum“, sagt er. Der Krieg tobte längst in seiner Heimatstadt, jeder Checkpoint war eine Gefahr für das Leben. „Zerstörte Gebäude, Feuer, Trümmer“, aus Hamotos Sätzen werden Bruchstücke. „Und diese Wesen an den Checkpoints“, er wendet sich ab, seine Hände fahren am Kinn entlang, zeichnen lange Bärte, bis auf die Brust. „Die waren eindeutig aus dem Kaukasus.“ Menschlich erscheinen ihm diese Männer nicht mehr.

Zunehmend seien Kämpfer aus anderen arabischen Ländern in den Konflikt involviert, bestätigt der Politikwissenschaftler André Bank. „Radikale arabische Kämpfer, die auch in Afghanistan gekämpft haben, und viele, die im Irak waren, andere aus dem Libanon oder Libyen.“ Der Syrienkrieg ist längst ein internationaler Konflikt, in dem sich weltpolitische Interessen widerspiegeln.

Hamoto und seine Familie waren mitten im Bombenhagel. 24 Stunden am Tag, mittendrin die Kinder. „Es roch nach verbrannten Leichen und Blei, die Kinder hörten nur bumm, bumm, bumm.“ Sie haben zusammengepackt, was ging, auf dieser zweiten Flucht. Bücher für den Vater, Lego für den Kleinsten. Dann, in letzter Minute, eine weitere Fahrt mit einem Schleuser, der sie an die Grenze zur Türkei brachte. „Ich bin deutscher Staatsbürger, kein Flüchtling“, diese Worte hätten die Tore geöffnet.

Hamoto nutzte seine Kontakte nach Deutschland. Der Studiosus-Reisen-Chef habe die Flüge gebucht, alles organisiert. Seit drei Monaten leben die Hamotos nun in München bei ihrem Gastgeber. „Wir haben unheimlich viel Hilfe vom ersten Tag an bekommen“, sagt Azad Hamoto mit weicher Stimme, merklich froh, gedanklich ins Hier und Heute wechseln zu können: Kleider für die Kleinen, und auch die Behörden waren freundlich zu dem deutschen Syrer. Mit der Einschulung der Kinder habe es keinerlei Probleme gegeben, sie sind mehrsprachig aufgewachsen. Die Mutter spricht Kurdisch mit ihnen, der Vater Deutsch. In Syrien lernten sie zusätzlich Arabisch, an der Schule Englisch und Französisch.

Über seine berufliche Zukunft macht sich Azad Hamoto keine Sorgen. Als Akademiker, so hofft er, habe er gute Chancen auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Doch Krieg und Flucht lassen sich nicht so leicht abschütteln. „Wir waren fünf Monate auf der Flucht und sind noch nicht richtig angekommen.“ Noch immer suchen die Hamotos nach einer Wohnung, erst dann könne er sich auch beruflich orientieren. „Du kannst nicht immer aus dem Koffer leben“, sagt Hamoto.

Doch Hamoto sorgt sich nicht nur um seine eigene Zukunft. Er hat Angst vor einer Islamisierung Syriens. Die syrische Gesellschaft, in der er gelebt hat, beschreibt er als ein Mosaik aus unterschiedlichsten kulturellen und religiösen Bausteinen, ein buntes Geflecht verschiedener Lebensweisen und Weltanschauungen. Diese Gesellschaft mit ihrer Vielfältigkeit und ihren kulturellen Schätzen gibt es nicht mehr.

Wie sich der Bürgerkrieg in Syrien weiterentwickelt, vermag derzeit keiner zu sagen. Syriens Staatschef Baschar al-Assad hat sich kürzlich nach langer Pause über eine Fernsehansprache zu Wort gemeldet. Und Verhandlungen mit den Rebellen kategorisch ausgeschlossen. Dennoch hofft Hamoto weiter. Auf ein Ende des Krieges, auf Frieden, allen schwarzen Gedanken zum Trotz. „Ich möchte“, sagt er, „als Erster zurück sein für den Wiederaufbau. Ich werde in Syrien gebraucht.