In der Sommerfrische

OPER Keine Revolution, weil alle nur an Sex denken: Jürgen Flimms Staatsopern-Inszenierung von Mozarts „Hochzeit des Figaro“

Gustavo Dudamel beginnt schon mit der Ouvertüre, obwohl das Licht im Saal noch gar nicht ausgeschaltet ist. Leise pochende Achtel von Fagotten und Streichern, dann ein gewaltiger Schlag des ganzen Orchesters, und wir starten durch, atemlos und kurz vor dem Herzinfarkt, aber doch so leicht, klar und durchscheinend präzise in allen Stimmen, dass wir uns um Mozarts Musik ganz sicher keine Sorgen mehr machen müssen an diesem Abend. Sie ist einfach da, in ihrer vollen Größe und Schönheit, die sich bekanntlich nicht erklären und in Worte fassen lässt. Dudamel und die Staatskapelle spielen Mozart, das muss reichen; höchstens noch sei gesagt, dass es nicht besser geht als so.

Derweil ist Zeit, mit Saalbeleuchtung das Personal einzulassen. Der Graf macht Urlaub und kommt an mit seiner Entourage, die schwer beladen mit tausend Koffern über die schmale Rampe vor dem Orchestergraben balanciert. Willkommen in der Sommerfrische. Sie schaffen es noch rechtzeitig vor dem Ende der Ouvertüre, auf die Bühne zu kommen.

Dort steht ein Ferienhaus aus Holzlatten im eher dänisch modernen als spanisch üppigen Stil. Ihre Kleider kommen aus dem Anfang des letzten, des 20. Jahrhunderts. Sehr elegant in jedem Fall, und so genau mit Ort und Zeit haben es Magdalena Gut (Bühne) und Ursula Kudrna (Kostüme) nicht genommen, denn Jürgen Flimm, der Hausherr und Regisseur, hatte Zeitloses vor.

Es gibt gute Gründe, „Die Hochzeit des Figaro“ als Revolutionsoper zu lesen, mindestens als Protest empfindsamer Bürgerseelen gegen die sexuelle Verrohung des dekadenten Adels. Flimm weiß das gut, es ist seine dritte Inszenierung des Werkes, aber er hat tiefer in die Welt von Lorenzo da Ponte und Wolfgang Amadeus Mozart geblickt.

Man hat sie so oft missverstanden. Nach dem Aufstand der Bürger kam mit „Don Giovanni“ die Anarchie der Lust gegen die Konventionen der Spießer. Und dann kam „Così fan tutte“. Was nun? Schöne Musik, verschwendet an einen Gossenschund, hieß es nun etwa hundert Jahre lang. Erst Richard Strauss hat sich getraut, das Original auf die Bühne zu bringen.

Mit seiner ganzen Erfahrung führt uns Flimm jetzt vor, dass es immer um „Così fan tutte“ geht. Auch im „Figaro“ tun nur das Eine: Sex. Natürlich wissen wir das sowieso, scheint es, aber die Größe von da Ponte und Mozart besteht darin, uns vorzuführen, dass wir es eben nicht wissen. Der Sex verdreht uns den Kopf, wir seufzen, winseln und jubeln durcheinander, es kann auch mit Mord und Totschlag enden.

Kein Plan, wer wen betrügt

Wir brauchen deshalb dringend eine „Schule der Liebenden“, wie „Così fan tutte“ im Untertiel heißt. Bei Flimm ist die Lektion wunderbar heiter, in ein mildes, ein bisschen großväterlich verständiges Licht getaucht. Figaro nimmt Maß, am Bett, dann an Susanne. Es passt. Lauri Vasar singt mit hellem und leichtem Bass einen fleißigen Angestellten mit Fliege und Brille.

Aber das sind auch nur wenige Schritte zu Anna Prohaska, der Susanna, die ein bisschen weiter denkt. Der Graf ist Ildebrando d‘Arcangelo. Er hat nicht nur einen betörend schönen Bariton, er hat auch Charme und Stil. Ein Womenizer, dem es ein wenig öd geworden ist mit seiner Gräfin. Mit matronenhaft fülliger Stimme singt Dorothea Röschmann davon, wie schön es doch einmal war. Sie möchte ihn wiederhaben und ist deswegen zu jeder Intrige bereit. Zum Glück gibt es auch noch Cherubino, den schönen Pagen.

Souverän und entspannt lässt Flimm all diesen großen Sängerinnen und Sängern den Raum, ihre Rollen auszuspielen; mühelos gelingen noch die turbulentesten Ensembles, in denen am Ende endgültig niemand mehr weiß, wer gerade wen betrügt – auch im Publikum nicht.

Sein Meisterstück ist Flimm jedoch mit der Hosenrolle des Cherubino gelungen. „Ihr, die ihr wisst, was Liebe ist“ singt Marianna Crebassa. Aber sie ist kein unschuldiges Kind. Ihre Stimme ist hart und fordernd, sie weiß nur zu gut Bescheid und geht allem sofort an die Wäsche, was Brüste hat. Denn bei Flimm ist dieser süße Page Cherubino eigentlich Don Giovanni. Jetzt noch ein Kind, aber schon ein Jahr nach der Uraufführung des Figaro in Wien war in Prag zu sehen, was daraus wird: „Il dissoluto punito“, der Bösewicht, der bestraft werden muss. Weil Flimm den ganzen Mozart so tief aufschließt, ist auch die ganze Wahrheit des Meisterwerks zu sehen. Sex mag komisch sein, lustig ist er nicht. Niklaus Hablützel

Nächste Aufführungen: 9., 11., 13., 15. + 19. November 2015