Brüchige Zivilisation

Stephan Kimmig inszeniert Kleists „Penthesilea“ am Thalia Theater als unblutiges Psychodrama

von Karin Liebe

Eine steile Treppe führt vom Bühnenboden in die Höhe. Die Stufen sind sehr hoch, und wohin sie führen, das weiß man nicht. Zwei Stunden lang kommt keiner die Treppe herunter, keiner steigt sie hinauf. Alle fünf Schauspieler, auf die Stephan Kimmig das Personal von Kleists Trauerspiel Penthesilea in seiner Inszenierung am Thalia Theater reduziert hat, ignorieren die Treppe. Sie kommen und gehen durch eine schäbige Spanplattentür.

In die Niederungen der Leidenschaften hat Kleist die Amazonenkönigin Penthesilea und den griechischen Krieger Achill geschickt. Auf dem Schlachtfeld von Troja begegnen sich die beiden jungen, schönen, stolzen Menschen, ihre gegenseitige Liebe wird bald zu einem Gerangel um Macht und Unterwerfung und schließlich zum Kampf auf Leben und Tod.

Stephan Kimmig konzentriert sich in seiner auch textlich stark reduzierten Inszenierung auf die Gefühlswelt der Protagonisten. Und die ist sprunghaft, widersprüchlich und radikal. Da wird geflirtet und gelächelt, gegen die Wände gesprungen und gehasst. Kimmig verzichtet auf Kampfgetümmel in historischen Kulissen und lässt in einem schlichten, ja fast gesichtslosen Raum vor allem die Körper sprechen.

Susanne Wolff gibt die siegesgewisse Amazonenkönigin mit einem erfrischend offenen Lächeln, das aber auch vor Naivität strotzt. Wie eine Schneekönigin freut sie sich auf ihre Beute, den knackigen Achill (Alexander Simon). Doch den hat sie gar nicht im Kampf besiegt, wie sie zunächst glaubt, sondern Achill hat sie bezwungen. Einem Mann unterliegen aber dürfen die Amazonen niemals. So wird aus der Grazie Penthesilea bald eine Furie.

Wie sie Achill in einem erneuten Zweikampf, bei dem er sie gewinnen lassen will, erst tötet und dann brutal zerfleischt, das wird in Kimmigs Inszenierung nur erzählt. Was man sieht, ist eine hoch erotische und zärtliche Liebeszene. Wenn Achill stirbt, fließt kein Blut, er stürzt nicht einmal zu Boden. Wie eine Gliederpuppe steht er mit geschlossenen Augen da, während ihm Penthesilea die Anzugjacke abstreift. Ganz behutsam streichelt sie über seinen nackten Oberkörper, erkundet Haut und Knochen. Nicht wie eine hungrige Löwin reißt sie ihn in Stücke. Nein, wie eine Raubkatze streift sie um die Beute und eignet sich den Körper des Geliebten an.

Dass es hier um Anziehung, Macht und Unterwerfung geht, zeigt sich auch an den Kostümen. Nach den durchsichtigen Kleidchen in der Phase der erotischen Annäherung tragen Penthesilea und ihre Vertraute Prothoe (Claudia Renner) nach der Pause wie Achilles, Odysseus (Michael Weber) und Diomedes (Helmut Mooshammer) einen schwarzen Anzug, die internationale Uniform der Mächtigen. Mit einem kleinen Unterscheid: Hemd, Krawatte, Schuhe und Socken fehlen. Unter der dünnen Hülle der Zivilisation lauern die nackten Triebe. Vielleicht geht deshalb niemand die Treppe hoch. Aber es gibt sie: als Möglichkeit.

weitere Vorstellungen: 9.,10.,12.11., 20 Uhr, Thalia