berliner szenen Neue Erlebnisräume

Das Tempo-30-Gesicht

Was diese Stadt für junge Leute so interessant macht, ist, dass sie sich hier beliebig ausprobieren können. Abgefedert durch das niedrige Preisniveau bieten sich dem Neuberliner zahllose Erlebnisräume zur Selbstverwirklichung – er muss nur neugierig sein, ein wenig Mut haben und die Augen offen halten.

So in der Zossener Straße in Kreuzberg: In der Tempo-30-Zone haben sie am Straßenrand ein elektronisches Schild aufgestellt – „Sie fahren: …“ – und dazu wird die jeweilige Geschwindigkeit eingeblendet, mit der man soeben das Schild passiert. Unter der entsprechenden Zahl erscheint wiederum so eine stilisierte Digitalfratze, ein Smiley. Fährt man unter 30, hat es die Mundwinkel hochgezogen, es freut sich. Fährt man über 30, dann gehen die Mundwinkel nach unten. In der Regel versuche ich die Mundwinkel immer heruntergezogen zu lassen – solche Mundwinkel braucht unser Land.

Doch natürlich ist meine Fantasie nun angestachelt. Wieder und wieder drehe ich mit dem Taxi die Runde um den Block. Wie üblich gibt es sowieso nichts anderes zu tun. Später, wenn noch weniger Verkehr ist, kann ich auch einfach wenden, das geht dann noch schneller, dann kann ich noch öfter an der Tafel vorbeifahren, auf Nachtschicht. Ich versuche, exakt 30 zu fahren, um zu erforschen, ob das Gesicht dann einen neutralen Mund macht, einen horizontalen Strich. Das ist nicht leicht, doch irgendwann werde ich es herausbekommen. Ich werde überhaupt alles ausprobieren – das ist herrlich, genau das ist Berlin: Ob das Symbol unter 10 km/h ein Schlafgesicht zeigt, mit Kreuzen als geschlossenen Augen? Ob es bei 70 Stundenkilometern weint? Ab 100 schreit es bestimmt.ULI HANNEMANN