piwik no script img

Besetzer lassen Flüchtlinge rein

Leerstand Seit sechs Tagen besetzen Aktivisten das frühere DGB-Haus in Göttingen, um neuen Wohnraum zu schaffen – und einen Ruheort für durchreisende Flüchtlinge

Leer stehende Häuser seien ein Skandal, finden die Besetzer der Gruppe „Our House“  Fotos: Meinhart Ramaswamy

von Reimar Paul

Fahnen und bunte Transparente hängen aus den Fenstern des ehemaligen Hauses des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) in der Göttinger Innenstadt am Platz der Synagoge. Vor dem vierstöckigen Gebäude haben Aktivisten einen Info-Stand aufgebaut, einige drücken Passanten Flugblätter in die Hände. Mehrere Dutzend Menschen haben das seit 2009 leer stehende Haus am vergangenen Donnerstag besetzt. Und zwar, wie eine Frau von der Initiative „Our House“, die ihren Namen lieber nicht nennen möchte, betonte, „um lange hier zu bleiben“.

Jetzt sind sie immerhin schon sechs Tage hier. Über das Wochenende richteten Helfer die ersten Zimmer mit Möbeln und anderen Spenden wohnlich her. „Jede Nacht übernachten hier bis zu zehn Personen, die auf ihren Fluchtwegen durch Deutschland am Göttinger Bahnhof gestrandet sind“, sagt ein Mann aus der Besetzer-Gruppe. Die Flüchtlinge hätten Züge oder Busanschlüsse verpasst, hätten kein Geld mehr, um weiter reisen zu können, oder wüssten teilweise einfach nicht, wo sie sind und wie es für sie weitergehen könne, sagt der Aktivist.

Im dem besetzten Haus fänden die Geflüchteten einen warmen, geschützten Platz zum Ausruhen, Übernachten, Essen und Trinken. „Die Nächte im Haus sind angefüllt von Fluchtgeschichten, von grauenhaften Kriegserlebnissen, von Erschöpfung, häufig von Nicht-Schlafen-Können, aber auch von großer Erleichterung, von Begeisterung über diese Unterstützung“, sagt die „Our House“-Aktivistin.

Tagsüber und abends gibt es Veranstaltungen im Gebäude. Es laufen Filme, in einem anderen Raum wird ein Straßenfest vorbereitet. Am Sonntag informierten afghanische Flüchtlinge im ehemaligen DGB-Versammlungssaal über die Situation in ihrem Heimatland.

Das Gebäude stand seit dem Auszug des Gewerkschaftsbundes im Jahr 2009 leer. Es ist im Besitz der gewerkschaftseigenen Vermögens- und Treuhand-Gesellschaft (VTG) und verfügt über fast 30 Räume. Toiletten, Strom und Wasseranschlüsse sind vorhanden.

Angesichts des akuten Mangels an bezahlbarem Wohnraum, der unhaltbaren Zustände im Erstaufnahmelager in Friedland und geplanten Massenunterbringungen von Geflüchteten in Turnhallen, sei der jahrelange Leerstand des Gebäudes weder zu rechtfertigen noch weiter hinzunehmen, finden sie bei „Our House“. Jedes leer stehende Haus sei ein Skandal, kritisieren die Aktivisten.

Die Wohnungsnot in Göttingen ist tatsächlich groß. Rund 6.000 Erstsemester sind zum Wintersemester neu in die Stadt gekommen. Die Kommune muss in den nächsten Wochen hunderte Flüchtlinge unterbringen. Auch deshalb haben sich inzwischen zahlreiche Initiativen mit der Besetzung solidarisiert.

Verhängt die Fassade des alten DGB-Gebäudes: kletternder Besetzer

Hochschulgruppen begrüßen die Aktion als „wegweisende Ini­tiative im Kampf gegen Wohnungsnot und Verschärfungen der Asylgesetzgebung“. Eine „Wohnrauminitiative“ nimmt den Hauseigentümer aufs Korn: „Der DGB verwendet den Slogan ‚Refugees Welcome!‘ bisher vorwiegend als leere Worthülse –jetzt hat er die Möglichkeit, sie mit Inhalten zu füllen.“

Auch Linke, Grüne und die Gewerkschaft Ver.di erklärten öffentlich schon ihre Unterstützung. Die Grüne Jugend warnt zudem vor einer Kriminalisierung der Besetzung. „Eine gewaltsame Räumung durch die Polizei wäre angesichts der aktuellen Wohnraumnot ein verheerendes Zeichen“, sagt ein Sprecher.

Von einer Räumung geht „Our House“ aktuell aber nicht aus. Nach Aussagen von Polizei, DGB und VTG gebe es bislang auch keine Anzeige. Alle Seiten zeigten sich verhandlungsbereit.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen