Gefangen im Niemandsland

HISTORIE Zum 77. Mal jährt sich die Reichspogromnacht. Voraus ging die fast vergessene "Polenaktion"

„Wir hatten nichts, keine Decken keine Mäntel, gar nichts“

Zeitzeuge Herman Neudorf

BERLIN taz | Es gab weder ein Vor noch ein Zurück. Tausende waren gefangen im Niemandsland. Vor ihnen die verschlossene polnische Grenze, hinter ihnen deutsche Uniformierte. In den letzten Oktobertagen 1938 ließen die Nazis 17.000 in Deutschland lebende polnische Juden verhaften und zur Grenze bringen. Es war die erste große Deportation von Juden in Deutschland. Und es war der eigentliche Auftakt zum Völkermord an den europäischen Juden.

Diese oft vergessene „Polenaktion“ ist die Vorgeschichte des Pogroms am 9. November 1938. Ein junger polnischer Jude, Herzel Grynszpan, erschoss in Paris den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath, um auf das Leid seiner Familie an der Grenze aufmerksam zu machen. Für die Nazis war das ein willkommener Anlass, im ganzen Land die Sy­nagogen brennen zu lassen.

Zuvor wurden im Rahmen der sogenannten Polenaktion am 28. und 29. Oktober polnische Juden aus allen Teilen des Landes deportiert. Die Nazi-Schergen zwangen die Menschen zum illegalen Grenzübertritt, prügelten sie geradezu nach Polen.

Die Eile hatte ihren Grund. Polen hatte zuvor erklärt, es werde im Ausland lebenden Polen die Staatsbürgerschaft entziehen und ihnen die Einreise verwehren. Etwa 50.000 Menschen wären in Deutschland betroffen gewesen, Stichtag war der 30. Oktober 1938. Den Nazis erschien es einfacher, polnische Staatsbürger nach Polen abzuschieben, als Staatenlose des Landes zu verweisen.

„Die SS hat uns mit Stöcken geschlagen und über die Grenze ins Niemandsland getrieben“, erinnerte sich Herman Neudorf aus Gelsenkirchen. „Es war kalt, es regnete, wir hatten nichts. Keine Decken keine Mäntel, gar nichts.“ Nach und nach durften die einreisen, die Familie in Polen hatten. 7.000 Menschen aber hingen im Grenzort Zbą­szyń fest, in verlassenen Kasernen und Ställen – viele bis kurz vor dem Zweiten Weltkrieg, im August 1939.

Auch die Eltern und Geschwister von Herzel Gryn­szpan waren unter den Deportierten. Sie schafften es, sich nach Łódź durchzukämpfen. Von dort erreichte Grynszpan ein Brief seiner Schwester: Sie hätten fast nichts mitnehmen können und brauchten dringend Geld. Am Morgen des 7. November 1938 schoss Gryn­szpan in der deutschen Botschaft in Paris auf den Botschaftssekretär Ernst vom Rath. Er habe gewollt, dass die Welt hinsieht, schrieb Gryn­szpan in einem Abschiedsbrief an seine Eltern. Die Meldung vom Tod des Diplomaten wurde in den deutschen Medien prominent platziert – ein Aufruf zur Gewalt inklusive. „Die Schüsse von Paris bleiben nicht ungesühnt, davon kann die Judenheit überzeugt sein“, hetzte der Völkische Beobachter.

Reichspropagandaminister Joseph Goebbels rief indirekt zum Pogrom auf: Die Partei habe antijüdische Aktionen „dort, wo sie spontan entstehen, nicht zu verhindern“. Doch „spontan“ war die Gewalt nicht. Die Ausschreitungen wurden maßgeblich von der SA – oft in Zivil, um den Anschein des „Volkszorns“ zu wahren – angeleitet.

In dieser und den folgenden Nächten brannten 270 Synagogen und 7.500 Geschäfte. Mindestens 91 Menschen wurden ermordet, Unzählige zusammengeschlagen. 30.000 Juden wurden in Konzentrationslager deportiert. Und in Zbąszyń waren Tausende gefangen zwischen den Grenzen. Dinah Riese