Bundestag Erstaunlich klare Abstimmung über Sterbehilfe: Der Mitte-rechts-Antrag setzt sich durch
: Wer sterben will, muss sich selbst helfen

Händedruck für den Antragsteller: Michael Brand (CDU, Fulda) inmitten seiner Fraktion Foto: Klaus-Dietmar Gabbert/dpa

Aus Berlin Heike Haarhoff
und Philipp Gessler

Dass dieser Mann zu solchen Emotionen fähig ist! Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) umarmt mit hochrotem Kopf seine Kabinettskollegin, Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD). Sein Fraktionskollege Michael Brand wird auch geherzt, samt Handschlag wie im Fußballstadion – und der Applaus ist laut und ziemlich lang.

Es ist Freitagmittag, kurz nach eins. Der Bundestag hat soeben die „geschäftsmäßige Sterbehilfe“ in Deutschland verboten. Viel schneller und deutlicher, als von allen erwartet. Mit 360 Jastimmen bei 233 Neinstimmen und 9 Enthaltungen wird damit die sogenannte Sterbehilfe in der Bundesrepublik nach Jahren der Diskussion neu geregelt. Das Parlament hat gesprochen, es gab keinen Frak­tionszwang.

Auf der Tribüne sitzt der ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Nikolaus Schneider. Er hebt, einen Abgeordneten unten im Plenum grüßend, den Daumen. Seine neben ihm sitzende Frau Anne hatte im vergangenen Jahr erklärt, sie könnte angesichts einer Krebserkrankung vielleicht in der Schweiz ihr Leben beenden. Er würde ihr dann die Hand halten, hatte ihr Mann Nikolaus gesagt.

So viel Gefühl war unten im Plenum nicht zu finden. Der Abgeordnete Brand und seine SPD-Kollegin Kerstin Griese hatten führend einen Gruppenantrag formuliert, der sich gegen drei andere Gesetzentwürfe durchsetzen konnte. Schon im ersten Anlauf des recht komplizierten Abstimmungsverfahrens scheiterte ein Entwurf des CDU-Abgeordneten Patrick Sensburg und anderer, die die Beihilfe zum Sui­zid generell unter Strafe stellen wollten. Ebenso erging es zwei weiteren Entwürfen, für die Renate Künast (Grüne) und ­Peter Hintze (CDU) federführend waren. Sie sahen liberalere Regeln vor als die, die nun Gesetz geworden sind.

Nun wäre es wahrscheinlich übertrieben, von einer „Sternstunde des Parlaments“ zu sprechen, wie es meist passiert, wenn der Fraktionszwang mal aufgehoben ist. Aber Leidenschaft war schon vorhanden – etwa bei SPD-Vizefraktionschef Karl Lauterbach, der in der Debatte ausrief: „Lieber kein Gesetz als ein schlechtes Gesetz!“ Der Mediziner und Gesundheitsexperte stand am Pult, dünn und im Anzug, wippte mit den Knien, wie um Schwung zu holen, immer wieder. Ihm ging es um alles, er wollte die drohenden Strafen für Sterbehilfevereine und Unsicherheit für Ärzte verhindern: „Der assistierte Suizid ist seit fast 150 Jahren straffrei in Deutschland“, erinnerte er, „und das hat zu keinem Dammbruch geführt.“

Der Gesetzentwurf dagegen, den die Mehrheit des Kabinetts wie auch die Fraktionschefs Volker Kauder (CDU/CSU), Katrin Göring-Eckardt (Grüne) und Thomas Oppermann (SPD) befürworten, prophezeite Lauterbach, werde dazu führen, dass Ärzte künftig aus Angst vor Strafverfolgung ihre Patienten nicht mehr offen auch über einen möglichen Suizid beraten würden: „Machen wir uns nichts vor, das macht dann kein Arzt mehr.“ Doch Lauterbach blieb ungehört.

„Wir werden eine Vielzahl von Prozessen generieren, das können wir in diesem sensiblen Bereich nicht brauchen“

Brigitte Zypries, ehemalige Justizministerin

So ungehört wie auch die ehemalige Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD), die juristisch die ihrer Ansicht nach unklaren Formulierungen des letztlich erfolgreichen Gesetzentwurfs von Kerstin Griese und Michael Brand sezierte. Vor allem den Begriff der „Geschäftsmäßigkeit“ der Beihilfe nahm sie aufs Korn. Niemand wisse, wie er im Zweifel vor Gericht ausgelegt werden solle: als Geschäftemacherei? Als Wiederholungstat? Als Wiederholungsabsicht, als Gewerbsmäßigkeit? „Wir schaffen mit dieser Regelung mehr Probleme, als wir lösen“, warnte Zypries. „Wir werden eine Vielzahl von Prozessen generieren, das können wir in diesem sensiblen Bereich nicht brauchen.“

Dass der Brand/Griese-Entwurf am Ende eine so klare Mehrheit fand, lag auch an dem Druck, der im Vorfeld insbesondere auf die noch unentschlossenen Abgeordneten ausgeübt worden war: Die Kanzlerin hatte sich zum Gesetzentwurf von Griese und Brand bekannt, und mit ihr das halbe Bundeskabinett, darunter auch Gesundheitsminister Gröhe und Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel, der Vizekanzler und SPD-Vorsitzender ist. Zu Wochenanfang war dann noch bekannt geworden, dass die drei Fraktionschefs von Union, SPD und Grünen in einem Brief an ihre Abgeordneten geschrieben hatten, dass sie den Gesetzentwurf von Griese und Brand unterstützen würden. Dennoch beteuerte Kauder im Bundestag: „Es gibt keine Führungsvorgabe durch die Fraktionen.“

Der Mann, dessen Verein „Sterbehilfe Deutschland“ mit dem neuen gesetzlichen Verbot vor allem getroffen werden sollte, hatte indes keine Zeit, am Freitag nach Berlin zu kommen: „Wir sind zu Anfang des Monats umgezogen“, sagt Roger Kusch nach der Abstimmung am Telefon, „wir haben jetzt größere, schönere Räume mitten in der Hamburger Innenstadt.“ Vereinsverbot? Ende der Suizidbeihilfe in Deutschland? War da was? „Ach“, erwidert Kusch, freundlich, „ich verfolge die Debatte mit halbem Ohr im Fernsehen.“ Kunstpause. Dann sagt der ehemalige Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof und frühere Hamburger Justizsenator: „Deswegen schließen wir doch nicht unseren Verein!“ Klar, er und seine Mitstreiter würden sich an geltendes Recht halten – und folglich künftig keine Medikamente mehr besorgen, wenn Vereinsmitglieder sich das Leben nehmen wollten. „Aber wir beraten natürlich weiter“, bekräftigt ­Kusch. Ansonsten arbeite er an einer Verfassungsbeschwerde. Und: „Sollte das Bundesverfassungsgericht unsere Einschätzung teilen, dass das neue Gesetz verfassungswidrig ist, dann wird unser Verein selbstverständlich wieder Suizidbegleitungen ermöglichen.“