Aus Liebe zum Zufall

Musikpluralismus Niemand fliegt durch mehr Klangwelten: Das Berliner Andromeda Mega Express Orchestra um Komponist Daniel Glatzel ist zu Gast auf der „Stubnitz“

Größtmöglicher Freiraum für den Einzelnen und das Kollektiv im Blick: Glatzels Andromeda Mega Express Orchestra

von Robert Matthies

Wenn Daniel Glatzel über den Zufall spricht, dann hört es sich an, als rede er über eine leidenschaftliche Liebesbeziehung. Offen und unverbindlich müsse man annehmen, was entstehe, „so wie eine solche Verbindung eben ist“, sagt der Jazzmusiker. Nicht zu viel werten und einsortieren, feinfühlig genug rangehen, dann stehe der Reise aber nichts mehr im Weg: auf in „ungeahnte Gebiete“, zu „neuen Zuständen“, zur „Wahrhaftigkeit“.

Seit neun Jahren steht der 31-Jährige auf der Kommando­brücke des Berliner Musikraumschiffs Andromeda Mega Express Orchestra. Wenigstens 18-köpfig ist dessen Besatzung, allesamt Spezialisten mit Charakter: Jazzer, Rocker und Klassikmusiker mit Konservatoriumshintergrund, Elektroniker und Programmierer. Dass Glatzel den Chef gibt, war gar nicht geplant. Aber demokratisch regeln lässt sich nicht immer, wohin die Klangreise gehen soll.

Das nötige Gespür für unterschiedliche Musikwelten bringt Glatzel jedenfalls mit. Als Zwölfjähriger besuchte er für drei Jahre seine Mutter, eine koreanische Opernsängerin, lernte dort Tenorsaxofon spielen und hatte erste Auftritte mit koreanischen Jazzmusikern. Zurück in München, wo er aufgewachsen ist, lernte er beim Bariton-Saxofonisten Thomas Zoller weiter, studierte schließlich an der Berliner Hochschule für Musik Hanns-Eisler.

Autokrat ist Glatzel aber nicht. Eher Vertrauensperson und Collageur. Als Komponist seiner Band schmeißt er den gesamten Inhalt seiner Musik-Festplatte in die Playlist und drückt: Shuffle. Und dann folgt Béla Bartók auf schäbige Dauerwerbesendungsuntermalung, marokkanische Volksmusik auf Computerspielgeräusche, der Jazz-Trompeter Clifford Brown auf die kanadische Elektrocla­sherin Peaches. Und über allem schwebt natürlich Sun Ras Weltraum-Free-Jazz. Und ab und an passen die Versatzstücke eben einfach zusammen.

Damit auch auf der Bühne alles zusammenpasst, muss der Zufallsfreund aber doch ein wenig entrandomisieren. Denn der Kapitän des kosmischen Mega Express schreibt nicht nur sämtliche Stücke, dirigiert und spielt Saxofon und Klarinette, sondern plant auch die Auftritte. Schon die richtige Aufstellung wird da monatelang akribisch ausgetüftelt. Schließlich soll jeder den größtmöglichen Freiraum bekommen, wie beim alten Duke Ellington: Man hört auf jeden Einzelnen – und aufs Kollektiv als Ganzes.

Wenn das beeindruckende Orchester dann aber endlich auf der Bühne steht, wird der gesamte Konzertsaal zur Rakete und die Reise zum musikalischen Space-Road-Movie, über alle Genregrenzen hinweg, vorbei an Baumwoll-Zucker-Nebeln, Milky-Way-Fabeln und radioaktiven Menschen.

„Take Off!“ hieß 2009 folgerichtig das kühne und viel gelobte Debüt, übervoll an Informationen und Verweisen, Energie, Witz und unbändigem Freiheitsdrang. Aber Glatzels Flirt mit dem Zufall ging weiter. Für „Bum Bum“ zerlegte er sein ganzes Orchester im Studio und fügte es wieder zusammen, immer auf der Suche nach noch unentdeckten Erzählebenen.

Dass es im vergangenen Jahr dann eine Live-Platte gab, auch das ist in diesem Kosmos kein Schritt zurück. Hören kann man das im großen Finale „W. A. Mozart vs. Random Generator“, in dem ein Regler steuert, wie viel Zufall Mozarts Komposition verseucht. „Wir inszenierten das Ganze wie einen Boxkampf“, erzählt Glatzel, „bei dem ein Konsolenspiel aus den 80er-Jahren moderiert.“ Der Gewinner: die Liebe zur Offenheit der Musik.

Sa, 7. 11., 20 Uhr, „Stubnitz“, Kirchenpauerkai 29