Die Grabkontrolleurin

Heute Allerheiligen, morgen Allerseelen und bis Totensonntag dauert es auch nicht mehr lang: Im November wird seit jeher der Verblichenen gedacht. Für manche aber gehört der Friedhofsbesuch zum Alltag. Malaika Plueckthun zum Beispiel. Jede Woche besucht die 26-Jährige 500 letzte Ruhestätten in ganz Niedersachsen. Denn sie ist:

von Thomas Brunotte

Das Grab ist ein echtes Sorgenkind. Es liegt unter dem Schatten eines großen Ahornbaums, unmittelbar hinter dem Eingang des Friedhofs Walsrode. Eigentlich ein Vorzeigeobjekt, es will aber einfach nichts darauf wachsen. Der ockerfarben marmorierte Grabstein verrät, dass die letzte Beisetzung im Jahr 1928 stattgefunden hat. Einziger Schmuck: ein kleines, mit Buchsbaum umrandetes ovales Blumenbeet. „Extreme Lage“, urteilt Malaika Plueckthun. Das Wurzelwerk des Ahornbaums hat die Erde so sehr durchwachsen, dass es dem als Bodendecker gepflanzten Pachysandra jede Nahrung entzieht.

Einzelne giftgrüne, verkümmerte Pflänzchen liegen platt gedrückt auf dem steinharten Boden. Für eine grundlegende Neugestaltung ist trotz guter Zinsentwicklung kein Geld mehr da. Bald läuft der Pflegevertrag aus. Eigentlich müssten jetzt die Angehörigen informiert werden, doch die sind nicht aufzufinden. Man beschließt, noch etwas abzuwarten. Wenn alles nichts nützt, dann ist eine Bodenbedeckung aus Rindenmulch die letzte Lösung.

Malaika Plueckthun überprüft jährlich 26.000 Gräber. „Grabkontrolleurin“ steht als Berufsbezeichnung auf ihrer Visitenkarte. Für die Treuhandstelle Dauergrabpflege Niedersachsen/Sachsen-Anhalt prüft sie, ob die Gärtner die vertraglich vereinbarten Grabpflege-Leistungen auch tatsächlich einhalten. Wer sichergehen möchte, dass sein Grab später nicht verwahrlost, kann bei der Treuhandstelle einen Betrag anlegen, der die gärtnerische Pflege der letzten Ruhestätte langfristig absichert. Selbst nach Jahrzehnten kommen trotz Preissteigerungen auf die Erben keine Nachforderungen zu, weil die Treuhandstelle das Geld Gewinn bringend investiert. So kann man schon zu Lebzeiten dafür sorgen, dass sich die Freudsche Theorie nicht bewahrheitet, die Toten seien eine Bedrohung für die Lebenden. Die Treuhandstelle überprüft auch die Friedhofsgärtner. Wer seine Arbeit nicht ordentlich macht, verliert den Auftrag. „Das ist in diesem Jahr aber nur zweimal vorgekommen“, sagt die Grabkontrolleurin. In der Regel erfüllten die gut 400 Vertragsgärtner ihre Pflichten sehr gewissenhaft. 0,5 Prozent also, die trotz mehrfacher Aufforderung nicht mit der nötigen Sorgfalt gearbeitet haben.

Viel Freizeit hat die 26-Jährige nicht. Die Kontrollfahrten dauern lang, häufig muss die studierte Gartenbau-Ingenieurin in anderen Städten auch übernachten. Ihre Berufskleidung ist eine schwarze Weste mit dem silbernen Logo der Treuhandstelle, feste Lederschuhe und eine ausgewaschene dunkle Jeans. Dazu gehört auch ein schwarzer Regenmantel, den sie bei schlechtem Wetter trägt. Gern würde sie sich ein Pferd kaufen, doch darum kann sie sich zur Zeit nicht kümmern. Stattdessen lernt sie Dänisch. Manchmal beschäftigt sie sich auch mit Handarbeiten wie Häkeln, Stricken oder Nähen. Der häufige Kontakt mit Gräbern hat ihre Einstellung zum Tod nicht verändert, sagt sie. „Der Friedhofsbesuch war für mich auch als Kind schon etwas, das wie selbstverständlich zum Leben dazu gehört.“ Eine Antwort, die wohl auch ein Totengräber geben würde. Bereits als 15-Jährige hat sie ein Praktikum bei einer Friedhofsgärtnerei gemacht. Sie wollte gern in eine Gärtnerei. In der Floristik konnte man sie ohne entsprechende Ausbildung aber nicht brauchen, daher bot man ihr an, mit auf den Friedhof zu gehen. Sie sagte zu. Weil sie viel hinterfragte und gern eigene Ideen einbrachte, riet ihr damals der Chef: „Du müsstest eigentlich Grabkontrolleurin werden“.

Grabkontrolle ist in erster Linie ein diplomatisches Geschäft: Konfliktvermeidung, Interessenvertretung, Erfahrungsaustausch und viel Reisen. Malaika Plueckthun tritt immer als Vermittlerin auf. Friedhofsgärtner Eduard Menzel, einem großen Mann in durchweg grüner Montur und Schirmmütze, zum Beispiel ist da etwas Merkwürdiges passiert. Schon wieder ist es Pachysandra, der Probleme macht. Zwei Jahre lang war alles, wie es sein sollte. Satter, gleichmäßiger dunkelgrüner Bodenbewuchs. Doch seit ein paar Tagen durchziehen Kleepflanzen das Beet und zerstören das Gesamtbild. „Da muss mir einer etwas reingestreut haben“, argwöhnt er und hat auch schon einen Verdacht. Um zu vermeiden, dass verfeindete Friedhofsgärtner bei einem Termin aufeinander treffen, plant Malaika Plueckthun ihre Dienstreisen strategisch. Manchmal fährt sie ein und denselben Friedhof mehrmals an, um Begegnungen mit Konfliktpotential zu vermeiden. Sachlich rät die Kontrolleurin, Menzel solle sich zunächst bei der Berufsgenossenschaft erkundigen, ob es den besagten Klee-Samen überhaupt gibt. „Meine Kinder“, nennt sie die Gärtner – das ist aber nicht böse gemeint.

Die Kontrolle ist mehr ein Zwiegespräch als ein Abprüfen von Pflegestandards. Plueckthun hat dabei immer den Wunsch des Kunden im Auge. Meist kann er nicht mehr selbst befragt werden – verstorben, beruflich ins Ausland versetzt, zu alt, um sich selbst kümmern zu können, oder einfach froh, die lästige Grabpflege endlich los zu sein. Selbst wenn noch Geld für ein paar Blumen mehr da ist, wird die im Vertrag vereinbarte Bepflanzung nicht verändert. In so einem Fall werden die Pflanzen dann häufiger ausgetauscht. Damit das Grab immer schön frisch aussieht.

Häufig kann die Grabkontrolleurin die Gärtner auch bei schwierigen Problemen beraten. Wie geht man gegen Dickmaulrüssler oder Kaninchen vor? Darf man einen Rhododendron einfach gegen Eiben austauschen, wenn der partout nicht wachsen will? Was macht man gegen einen Bodenpilz, der einen Cotoneaster befallen hat? Bei solchen Fragen kann sie unter der Hand weitersagen, was die Konkurrenz in solchen Fällen macht. Immer mit dabei ist auch eine Foto-Mappe mit besonders schönen Gräbern. Ihre persönlichen „Highlights“, die sie selbst zusammengestellt hat. Ihre „Kinder“ wissen das zu schätzen und sehen in der Kontrolle auch etwas für sie Nützliches, sind dankbar für den Geheimtipp von der Grabkontrolleurin.

Vier Tage in der Woche ist die junge Frau unterwegs. Auf ihren Kontrollfahrten legt sie jährlich über 45.000 Kilometer zurück, eine Strecke von mehr als ein Mal um die Erde. Das Einsatzgebiet reicht von Osnabrück bis Magdeburg, von Wilhelmshaven bis Halle. Die leblose Blechstimme des Navigationsgeräts ist ihre Reisebegleitung. „Uschi“ heißt sie und kennt den Weg zu jedem Friedhof, auf dem Treuhandgräber liegen. Den Bürotag verbringt sie in einem Edel-Büro. Die Geschäftsräume der Treuhandstelle liegen in einer frisch renovierten, 1910 erbauten Fabrikanten-Villa in der Böttcherstraße in Hannover-Herrenhausen. Parkettboden, Stuckdecke und bunte Fensterverglasung auf den Toiletten. Die Immobilie ist kein übertriebener Luxus, sondern Teil der Anlagestrategie. Mit der Investition erwirtschaftet sie nämlich die für die Dauergrabpflege nötige Rendite. „Vier Prozent müssen es schon sein, sonst rechnet es sich nicht“, sagt Geschäftsführer Armin Kalbe. Ober- und Untergeschoss des Gebäudes werden an andere Firmen vermietet.

Walsrode, Fallingbostel, Hodenhagen, Bomlitz, Meinerdingen – noch ein Dorffriedhof. Über hundert Gräber sind schon kontrolliert. Die Orte persönlicher Erinnerung werden allmählich zu anonymen Nummern auf einer Checkliste. Nur noch zwei Treuhandgräber sind für heute zu prüfen. Diesmal allerdings ohne den verantwortlichen Gärtner. Nach einem kräftigen Regenschauer scheint jetzt wieder die Sonne. Modrig-feuchter Humusgeruch staut sich zwischen den Mauern des kleinen Friedhofs. Das Wegenetz ist alles andere als eindeutig. Sand- und befestigte Steinwege wechseln. Wo die Hauptachsen liegen, ist nicht klar. Trotz der robusten Schuhe werden der jungen Frau langsam die Füße schwer. Das letzte Grab will und will sich nicht finden lassen. „Der Herr da hinten könnte mir sicher genau sagen, wo ich es finde.“

Sie fragt ihn aber nicht. Andächtig harkt der ältere Mann mit dem grauen Hut das Beet. Grabpflege ist auch Trauerbewältigung. Auf vereinzelten Gräbern findet man auch völlig verschnittene Pflanzen. Das Stutzen, Schneiden, Zupfen gehört zum Friedhofsbesuch dazu. Die Kontrolleurin hat das letzte Grab für heute auch allein gefunden. So schnell wird sie den Weg nicht mehr vergessen. Auf ihrer Friedhofsskizze trägt sie die Position noch genauer ein. Beim nächsten Mal soll es schneller gehen. Orientierungspunkte: Die Kapelle, die Friedhofsmauer und die Hauptachsen. Bei Reihengräbern hilft meist auch das Todesdatum weiter. „Schon mein Vorgänger hat von einem GPS-gesteuerten Suchsystem geträumt“, sagt sie und lacht. Auf der Rückbank ihres Dienstwagens liegen ganze Ordner mit solchem handgefertigten Kartenmaterial. Bei jedem Besuch wird es weiter verfeinert. Grabkontrolle hat auch ein wenig etwas von Schatzsuche.