Bilder des Aufbruchs

China Eine Werkschau im Zeughauskino vermittelt die Widersprüche in einem Land zwischen Tradition und Moderne

„A Touch of Sin“ von Jia Zhang-ke erzählt von den entfremdeten Lebensverhältnissen im modernen China Foto: Xstream Pictures

von Claudia Lenssen

Chinesische Filme, auf allen großen Festivals der Welt vertreten, finden nur in Ausnahmefällen den Weg in westliche Kinos. Quentin Tarantino flirtete mit der Kunstform chinesischer Rache- und Blutorgien, die Geschwister Wachowski übersetzten die Flugfreiheit chinesischer Martial-Arts-Filme im Sci-Fi-­Thriller „Matrix“ und eine Handvoll chinesischer Stars und Regisseure konnte Hollywood für sich interessieren. Chen Kai­ge und Zhang Yimou wurden mit Historienmelodramen wie “Gelbe Erde“ und „Das rote Kornfeld“ zu Klassikern, und Zhang Yimou, der einst die Zensurbehörden gegen sich aufbrachte, ist seit der gigantomanischen Inszenierung der olympischen Eröffnungsfeier in Peking 2008 in den Rang eines Staatskünstlers aufgerückt.

Das, was wir zu wissen meinen über die Zerreißproben, die der autoritäre Wildostkapitalismus im bevölkerungsreichsten Land der Erde hervorruft, identifizieren wir am liebsten mit der Repräsentativen Solo-Performance von Ai Weiwei. Das Spektrum widersprüchlicher Erzählformen, mit denen das chinesische Kino auf die Spannungen zwischen Tradition und Moderne, Armut und Reichtum, Individuum und Gesellschaft reagiert, ist hier weitgehend unbekannt. Die Kuratoren der Gruppe The Canine Condition helfen ab 30. 10. diesem Manko mit einer Werkschau im Zeughauskino ab.

Seit der ersten chinesischen Filmschau, die sie 2009 kuratierte, hat sich die Filmlandschaft der Region in einem Maß entwickelt, von dem das europäische Kino nur träumen kann. Die Zahl der neu gebauten Kinosäle nimmt inzwischen wöchentlich um etwa 100 zu, wie The Canine Condition notiert. Euphorische Wachstumsprognosen sagen voraus, dass China die amerikanische Filmwirtschaft 2018 voraussichtlich abgehängt haben wird.

Im Schatten dieses Booms steigt auch die Vielfalt der Produktionen, die Zahl interessanter Newcomer und die Experimentierfreude in Sachen Genre – traditionell die Stärke der chinesischen Filmemacher, vor allem in Hongkong.

Im Schatten dieses Booms steigt auch die Vielfalt der Produktionen

25 Spiel- und Dokumentarfilme, die seit 2009 in den politisch, kulturell und filmästhetisch differierenden Produktionszentren Peking, Hongkong, z. T. auch im Inselreich Taiwan entstanden sind, stellen die Programmmacher vor – anstelle eines nationalen Kanons, also eine vom Sinn für Farbe, Kamera, Genrevariationen und Anspielungen auf ältere Künste inspirierte Auswahl. Darunter finden sich Lu Yangs „Brotherhood of Blades“, ein historisches Schwertkampfabenteuer, und „Let the Bulletts fly“ von Jiang Wen, ein Gangsterfilm um einen Eisenbahnüberfall in der Provinz, neben weiteren historischen Stoffen aber auch zahlreiche in der Gegenwart angesiedelte romantische Komödien und Beziehungsdramen, die das Kino als „Medium der Modernisierung“ reflektieren. „A Touch of Sin“ von Jia Zhang-ke, ein Reigen aus vier ineinander geschlossenen Episoden, bringt die explosive Spannung und grausame Rücksichtslosigkeit in modernen entfremdeten Lebensverhältnissen mit den farbstrotzenden Mitteln eines hyperrealistischen Pop-Trips auf den Punkt. Da braust ein Außenseiter in einer Kohlenmine gegen den korrupten Ausbeuterchef auf, indem er sein Schrotgewehr in ein Tuch mit Tigermotiv einwickelt und ein Tarantino-gleiches Blutbad anrichtet, da wehrt sich eine smarte Single-Frau gegen die Übergriffe der Kunden in einer Sauna, deren Rezeption sie verwaltet, indem sie das Messer zieht, und auch in den anderen Episoden zelebrieren ihre Brüder im Geiste den Kult des kalten Amoklaufs – ein wiederkehrendes Motiv, in dem sich Faszination und Kritik ununterscheidbar mischen.

Dank des aparten Umstands, dass mir die Sichtung nur ohne Untertitel möglich war, habe ich den Dokumentarfilm „Petition“, eine Langzeitbeobachtung des Guerillafilmers Zhao Liang, nur als bewegende visuelle Erzählung unvergesslicher Gesichter wahrgenommen, kann ihn aber uneingeschränkt empfehlen. Über zehn Jahre besuchte Liang die Bewohner eines dystopischen Wellblechdorfes an den Gleisen nahe dem Südbahnhof in Peking. Von weit her hat es Menschen hierher verschlagen, weil sich in diesem Stadtteil die Behörde befindet, in denen sie juristische Fehlentscheidungen, Korruption, Landnahmen u. a. zur Überprüfung einreichen können. Mit versteckter Kamera gedreht, dokumentiert er die Verzweiflung der Antragsteller, die gleichgültige Maschinerie der Abfertigung, Polizeiübergriffe und persönliche Geschichten. Ein Einblick in die Mühlen eines kafkaesken, skandalös unfähigen Justizwesens, dessen Opfer auch als Obdachlose Haltung bewahren.

Sehnsucht nach dem Regen: ab 30. Oktober, Zeughauskino