Die Sprache des Alltags schäumt über

Literatur Ein Roman darüber, wie lustig und traurig Sprache ist – und wie viel Unheil sie als Herrschaftsinstrument anrichten kann. Bora Ćosićporträtiert in „Die Tutoren“ das 20. Jahrhundert

Was man alles an Dingen aufzählen könnte! Alltagsszene im ehemaligen Jugoslawien Foto: Malcolm Linton/Polaris/laif

von Doris Akrap

In Bora Ćosić’so dickem wie wichtigem Roman „Die Tutoren“ kommt man sich zunächst vor wie bei Twitter. Pausenlos wird geplappert und gequasselt, gefaselt und gelallt. Sätze ohne Bezug zueinander und voller Plattitüden, Floskeln, Phrasen und Binsenweisheiten laufen hintereinanderweg und verhallen in einem großen lärmenden Nichts. Auf diese Weise erzählt der große jugoslawische Meister der Groteske auf knapp 800 Seiten ein Jahrhundert Alltagsgeschichte in der Peripherie Ostkroatiens, das durch seine historische Grenzlage zwischen Ost und West ein Knotenpunkt aller europäischen Herrscher, Beherrschten, Kulturen und Register war.

Eine Erzählung im herkömmlichen Sinne ist es nicht. Eher gleicht der Roman dem Versuch, Roland Barthes’ poststrukturalistische Theorie zu literarisieren. Die zentrale Figur ist nicht Theodor oder Lazar, Katharina oder Laura, sondern das Sprechen selbst. Zu großen Teilen bestehen „Die Tutoren“ dabei nicht aus Sätzen, die eine Geschichte mit Haupt- und Nebencharakteren erzählen, sondern aus Sätzen, die Aufzählungen sind.

Die Erzählstränge werden durch Aufzählungsstränge ersetzt: Seitenlang werden Listen wiedergegeben, Listen von Samen für Gemüsesorten oder die Namen von Verehrern, Titel von Frauenzeitschriften eines Jahrgangs oder die Verdauungszeit einzelner Lebensmittel in den unterschiedlichen Körperteilen, die Namen von Hunderten Gästen eines Dorffestes oder die Buchtitel einer Buchhandlung. Diese Aufzählungen stehen mitten drin im großen Gequatsche über Familie und Nachbarn, Politik und Kunst, Liebe und Literatur.

In diesem großen Gequatsche, das ein einziges Missverständnis ist, schaffen sich die Beteiligten eher zufällig ihre eigene Wahrheit über das, was um sie herum passiert, und formen so eine Realität, an die sie glauben. Der Leser glaubt zunächst, so wie mit einer Zutatenliste umgehen zu müssen. Er fühlt sich dazu aufgefordert, aus den angegebenen Materialien selbst eine Geschichte zusammenzubasteln. Allerdings merkt man bald, dass man das Basteln an der Geschichte aufgeben kann und sich dem reißenden Satzstrom ohne Sinn und Verstand hingeben muss.

Oft muss man dann lachen. Über tatsächliche Witze, über den Jargon von Bauern und Adligen, über den von Faschisten und Kommunisten oder über einen seitenlangen Monolog in Reimform, der keinen Sinn ergibt. Vor allem aber muss man darüber lachen, dass man sich diesen versammelten Unsinn, der da auf knapp 800 Seiten vor sich hin brodelt, tatsächlich reinzieht.

Immer wieder möchte man dieses Dauergedröhne überspringen. Aber das kann man nicht. Denn es könnten einem die kurzen Gedankenblitze, die großartige Situationskomik oder eine kluge Bemerkung entgehen.

Vordergründig ist das Epos als Familienchronik strukturiert, unterteilt in fünf Kapitel, denen jeweils eine Hauptfigur und eine Jahreszahl vorangestellt sind. Im ersten, „Theodor, 1828“ erzählt der Ururgroßvater des Autors in Form eines Lexikons vom Dorfleben als orthodoxer Pope im fiktiven ostkroatischen und katholischen Grunt. Im zweiten, „Katharina 1871“, interpretiert die kroatische Adlige, die den Sohn Theodors geheiratet hat und dafür von ihrer Familie verstoßen wurde, die politischen und gesellschaftlichen Ereignisse der Gegenwart und der Zukunft. Katharinas weltgewandte Schwiegertochter Laura bestimmt das dritte Kapitel und erzählt über das Paris um 1900. Ab 1938 erzählt dann ihr Schwiegersohn Lazar, der vor allem in Bars und Bordellen lebt, von der Hetze gegen die Juden und seinen sexuellen Eroberungen. Das letzte Kapitel „Autor, 1977“ gibt schließlich Trivialitäten über Literatur und Revolution, über den Roman und den Autor der Lächerlichkeit preis.

Der Autor, Bora Ćosić, 1932 in Zagreb geboren, lebt seit den 90er Jahren in Berlin und hat mehr als 30 Bücher über das Sinnlose, Groteske, Absurde und Tragische des Bal­kans verfasst. Auch in „Die Tutoren“ erzählt er keine konventionelle Geschichte, sondern die Geschichte des ­Redens. Und das ist nicht die einer hohen Kunst, sondern die des Plapperns, des Quasselns, des Brabbelns, des Laberns, des Schnatterns, des Schwafelns, des Schwatzens, des großen Palavers.

Ćosićbietet die Sprache in Dutzenden Formen auf: als Lexikon, Bauernkalender, Lesebuch, Comic, Katalogverzeichnis, Drama, Haushaltsbuch, Baedeker, Volksliederbuch, Schund­fortsetzungsroman, Gedicht oder Behördenmitteilungen. Aber egal in welcher Form, die Sprache schäumt über. Sie ist gewalttätig, sie mäht alles nieder, sie nervt. Der Roman erzählt davon, wie leer Sprache ist, wie lustig und wie traurig das ist und wie viel Unheil sie als Herrschaftsinstrument und als Gefühlsübersetzerin anrichten kann.

„Die Tutoren“ entstand in den 70er Jahren im sozialistischen Jugoslawien. Das ist die Zeit, als Ćosićund andere Intellektuelle, die sich wie er über den Sozialismus lustig machten oder ihn ernsthafter kritisierten, nicht mehr publizieren durften.

Eine Geschichte des Plapperns, des Quasselns, des Laberns, des großen Palavers

1968 war „Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution“ veröffentlicht worden, eine Geschichte, mit der Ćosićbis heute in aller Welt bekannt wurde. Aus der Perspektive eines kleinen Jungen wird vom Zweiten Weltkrieg und der Machtübernahme der Kommunisten erzählt. Auch dieser Roman hat keine wirkliche Handlung, sondern ist sarkastisch-humorvolle Collage aus Gedanken und Eindrücken, erzählt in der Sprache eines Kindes.

Ohne dass ihm offiziell mitgeteilt wurde, warum, verschwanden zwischen 1972 und 1978 Ćosić’Bücher aus den Buchhandlungen; das aus seinem Roman adaptierte Theaterstück wurde über Nacht vom Spielplan gestrichen und der gleichnamige Film in Venedig uraufgeführt, aber in Jugoslawien nie gezeigt.

In dieser Zeit ging Ćosićflanieren und spazieren und hörte den Menschen beim Reden zu. Er sammelte alles an Kladden, Koch- und Tagebüchern, Amtsanweisungen und Buchhalterischem, das er kriegen konnte, und wurde zum schweigenden Chronisten des Alltagsgebrabbels. Dienstanweisungen und Rezepten, Redensarten, Grußformeln und betrunkenem Monolog lauschte er den Schwachsinn und den Jux dieser Welt ab und liefert auf diese Weise ein gesellschaftliches Jahrhundertporträt.

Wegen der unzähligen historischen und literarischen Anspielungen, der Wortspiele und Neologismen galt der Roman jahrzehntelang als gänzlich unübersetzbar. Nun, da er übersetzt ist, wird er als europäisches Jahrhundertwerk gefeiert. Das kann man so sagen. Dann aber muss man auch die Übersetzungsarbeit von Brigitte Döbert als ein solches bezeichnen. Mit ihr hat der Leser den besten Tutor, um die Sprachhölle des Balkans zu verstehen.

Bora Ćosić: „Die Tutoren“. Aus dem Serbischen von Brigitte Döbert. Schöffling, Frankfurt a. M. 2015, 792 Seiten, 39,95 Euro