Bei Kälte und Schnee im Zelt

LIBANON Der harte Winter im Nahen Osten erschwert das Leben syrischer Flüchtlinge in den Lagern. Nachts liegen die Temperaturen unter null. Eine Alternative haben sie nicht

„Ich habe Angst, mein Kind hier großzuziehen“

NESRINE, 19 JAHRE

AUS DALHAMIEH RAPHAEL THELEN

Bis sich die Augen vom gleißenden Schnee auf den umliegenden Feldern an das schummrige Licht im Zelt gewöhnt haben, sieht man nur Schemen. „Komm rein! Komm rein!“, sagt die 80-jährige Syrerin und zeigt auf den kleinen warmen Ölofen, der in der Mitte des Zelts steht. Nachdem alle ihre Schuhe ausgezogen haben und sitzen, enthüllt ein breites Lächeln die wenigen Zähne, die sie noch hat. „Ich heiße Thaljeh. Ich wurde an einem schneereichen Tag geboren.“

Thaljeh, arabisch für Schnee, ist eine von knapp tausend syrischen Flüchtlingen, die im hochgelegenen Bekaa-Tal in einer Zeltstadt wohnen. Unweit vom Camp sieht man die weißen Gipfel des Antilibanongebirges in den Wolken verschwinden. Dahinter liegt Syrien.

Thaljeh ist sich der Ironie ihres Namens nur zu bewusst. „Wir waren glücklich in Syrien. Dort waren die Winter ähnlich, aber wir hatten ein Haus“, sagt sie. Zusammen mit ihrem Ehemann und zehn Kindern lebte sie in Homs. Ihr Mann arbeitete bis ins hohe Alter als Schafhirte. Als ihre Kinder genug Geld verdienten, übernahmen sie die Versorgung. Trotzig blickt sich Thaljeh in ihrem neuen Zuhause um. „Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal unter solchen Umständen leben müsste“, sagt sie.

Die Zelte bestehen aus Plastikplanen und zusammengenähten Kartoffelsäcken. Auf dem Betonfundament liegen ein dünner Teppich und Matratzen. Zwischen den Zelten ist der Schnee einen halben Meter hoch. Wenn er tagsüber schmilzt, sickert das Wasser in die Zelte. Nachts fallen die Temperaturen weit unter den Gefrierpunkt.

Vergangene Woche zog der schlimmste Sturm seit 25 Jahren über den Libanon hinweg. Viele Landesteile wurden durch den Schneefall von der Außenwelt abgeschnitten. Mehrere Menschen starben und Dutzende wurden verletzt. Die Männer im Camp blieben nachts wach, um den Schnee vom Zeltdach zu schieben und Kanäle um die Zelte zu graben.

Khaleds Zelt wurde am ersten Tag des Sturms vollständig überschwemmt. Der 23-Jährige liegt auf einer klammen Matratze, die Decke bis ans Kinn gezogen. Auf dem nackten Beton steht das Wasser. „Ich habe keine andere Möglichkeit, als hier zu bleiben. Ich muss das Zelt wieder trocken kriegen.“ Die handbreiten Holzlatten, die das Dach stützen, sind von der Schnee- und Wasserlast durchgedrückt. Seine Frau Nesrine ist zu ihren Eltern ins Zelt gezogen. Ihre einjährige Tochter wurde in der Nacht der Überschwemmung wie die meisten Kinder im Lager krank. Auch eine Woche später hat sie noch Fieber. Fehlende medizinische Betreuung, Kälte und schlechte Ernährung erschweren die Genesung.

„Wir schliefen, als das Zelt überflutet wurde. Wir wachten erst auf, als alles nass war“, sagt Nesrine. Die 19-Jährige sitzt auf einer Matratze am Rand des Zelts. Sie ist im sechsten Monat schwanger. „Ich habe Angst, mein Kind unter diesen Umständen großzuziehen“, sagt sie. „Es mangelt uns am Notwendigsten.“ Ihre Eltern und fünf Geschwister sitzen um sie herum. Nachts teilen sie sich vier Decken.

Jedes Familienmitglied erhält vom UN-Flüchtlingshilfswerk 30 Dollar pro Monat. Damit müssen sie alle ihre Ausgaben decken. Doch schon der Schulbus kostet monatlich knapp 20 Dollar. Für ihr Zelt zahlt die Familie im Monat knapp 30 Dollar. Heizmaterial und ein wenig Elektrizität am Abend kosten extra.

Der Winter im Bekaa-Tal dauert mindestens bis Ende März, wobei die Schneeschmelze die Situation noch verschlimmern wird. Wann sie zurück nach Syrien können, darauf hat Nesrine keine Antwort. Ihr Blick wandert zu ihrer kranken Tochter, die in eine Decke gewickelt ihr gegenüber liegt und zuckt mit den Achseln. „Es ist immer noch sicherer als in Syrien.“