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Enttäuscht von den Menschen

BUCHVORSTELLUNG Bernd Brunners „Ornithomania“ porträtiert berühmte wie unbekannte Vogelliebhaber. Wie keine andere Forschung ist die Ornithologie auf möglichst viele solcher „Citizen-Scientists“ angewiesen

Rosa Luxemburg beobachtete Blaumeisen von ihrem Zellenfenster aus

von HELMUT HÖGE

Das Buch „Ornithomania“ von Bernd Brunner handelt von herausragenden Vogelliebhabern, die manchmal ihr Vermögen für ihre Leidenschaft hergaben oder wegen ihrer Passion irre wurden. Es sei „ein wahres Sammelsurium faszinierender (Lebens-)Geschichten“, schreibt der Verlag. Es geht also um Menschen, die ihr ganzes Leben der Beobachtung von Vogelarten oder dem Sammeln von Vogeleiern widmeten, aber auch um Ornithologen, die so vom Objekt ihrer Forscherbegierde eingenommen waren, dass sie im Sammelwahn beinahe ganze Arten ausrotteten – wie etwa der Amerikaner Frank M. Chapman: Er suchte jahrelang nach den letzten Exemplaren des Karolinasittich. Als er sie schließlich fand, erlegte er gleich 15 von ihnen.

Brunners Sammlung beginnt mit Friedrich II. von Hohenstaufen, dem „ersten großen Ornithologen“, der sich vornehmlich für Falken und die Jagd mit ihnen interessierte. Alle Vogelvernarrten hat der Autor natürlich nicht erwischt. Um einige ist es schade, zum Beispiel um Goethes Eckermann, der zu Hause viele Vögel hatte und ein großes Wissen über sie besaß. Einmal notierte er, nachdem Goethe ihn auf einen Gesang eines Rotkehlchen aufmerksam gemacht hatte: „Es war eine Singdrossel ... So einer großer Dichter und keine Ahnung von Vögeln.“ Nach Goethes Tod verkehrte er fast nur noch mit Vögeln, an seiner Kleidung hingen Federn.

Es fehlt auch die finnische Ethnologin Ulla-Lena Lundberg. In ihrem Buch „Sibirien: Selbstporträt mit Flügeln“ über eine ornithologische Expedition in die einstige Gulag-Region um Magadan schreibt sie: „Von Vogelbeobachtern heißt es, sie seien Menschen, die von anderen Menschen enttäuscht wurden. Darin liegt etwas Wahres, und ich will nicht leugnen, dass ein Teil des Entzückens, mit anderen Vogelguckern gemeinsam draußen unterwegs zu sein, in der unausgesprochenen Überzeugung liegt, die Vögel verdienten das größere Interesse.“

Rosa Luxemburg kam indes erst zum Vogelstudium, als sie nicht mehr „draußen unterwegs“ sein konnte: in Breslau, wo man sie zu Beginn des 1. Weltkriegs wegen wehrkraftzersetzender Reden in „Schutzhaft“ genommen hatte. Von ihrem Zellenfenster aus beobachtete sie Blaumeisen, über deren Verhalten sie ihrer Freundin Sophie Liebknecht fortlaufend in Briefen berichtete. Ähnlich wie ihre Blaumeisenforschung kam auch das „Schwalbenbuch“ von Ernst Toller zustande, der wegen seiner Teilnahme an der Münchner Räterepublik im Festungsgefängnis Niederschönenfeld einsaß. Sein Buch beginnt mit dem Satz: „In meiner Zelle nisteten im Jahre 1922 zwei Schwalben.“

Auch bei den Kerkermeistern und Soldaten gab es Vogelliebhaber, etwa den in Auschwitz beschäftigten SS-Offizier Günther Niethammer. Der Schriftsteller Arno Surminski veröffentlichte darüber 2008 den Roman „Die Vogelwelt von Auschwitz“. Sein Ornithologe heißt darin Grote, er hat einen polnischen Assistenten, den KZ-Häftling Marek. Eimal beobachten sie einen Kampf zwischen Krähen und Graugänsen. Erstere waren in der Überzahl, aber Letztere konnten sich halten, indem sie eine „Wagenburg“ bildeten. Nach Verbüßung einer dreijährigen Haftstrafe wurde Günther Niethammer 1968 schließlich Präsident der Deutschen Ornithologen-Gesellschaft.

Zuletzt veröffentlichte der amerikanische Biologe Jonathan Trouern-Trend, der als Soldat im Irak stationiert war, 2009 ein Buch über seine dortigen, wenn auch etwas dürftigen Vogelbeobachtungen: „Birding Babylon“. Wir erfahren darin weniger etwas über das irakische Vogelleben als über das „New Great Game“. Nachdem sein Truppenteil die südlichen Marschen des Landes durchquert hatte, notierte er: „Das Vogelbeobachten war großartig. Seit ich 1990 in Indonesien war, habe ich nicht mehr so viele Vögel an einem einzigen Tag gesehen.“

Ungeachtet der Unvollständigkeit des Brunnerschen „Sammelsuriums“ von Vogelliebhabern, bereichert sein Buch die Ornithologica-Sammlung. Zwar gibt es jede Menge „History of Bird-Watching“, aber bisher noch kein solches Archiv namentlicher Bird-Watcher.

Die Ornithologie, so sie sich nicht auf eingesperrte und getötete Vögel beschränkt, ist jedoch wie keine andere Forschung auf „Citizen-Scientists“ angewiesen: auf möglichst viele Vogelbeobachter. Denn was der berühmte amerikanische Rabenforscher Bernd Heinrich über seine „wilden Raben“ sagt, gilt für alle Vögel: „Bumms sind sie weg, in zehn Sekunden sind die abgehauen.“ Wohin und warum, kann man nur mit einem möglichst dichten Netz von Bird-Watchern herausbekommen. So wurden zum Beispiel die drei Bände über „Die Vögel des Rheinlands“ von 200 Hobby-Ornithologen verfasst. In dem zwölfbändigen Standardwerk „Handbuch der Vögel Mitteleuropas“ (HBV), das stetig aktualisiert wird, erzählen die Autoren arttypisches Verhalten im Präsens und Beobachtungen von einzelnen Tieren oder Schwärmen im Imperfekt, denn das Besondere ist vergänglich. Dazwischen oszillieren die manischen „Ornis“, wie der Biologe Josef Reichholf sein ihnen gewidmetes Vogelbuch nennt.

Bernd Brunner stellt sein „Ornithomania“-Archiv heute Abend um 19 Uhr im Naturkundemuseum in der Invalidenstraße vor – im Gespräch mit Heiko Werning, der drei Mitforscher-Magazine, darunter „Reptilia“, verantwortet

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