Aus mörderischen Zeiten

Theater Nach 22 Jahren wirft Regisseur Bastian Kraft am Thalia Theater einen neuen Blick auf Tony Kushners „Engel in Amerika“

Neue Freiheiten, neue Verantwortungen: „Engel in Amerika“ ist voller Hoffnung   Foto: Krafft Angerer

von Robert Matthies

Einen Vers des Lyrikers Stanley Kunitz hat Tony Kushner seinem Stück vorangestellt: „In mörderischen Zeiten / bricht das Herz und bricht / und lebt, indem es bricht.“ Eine mörderische Zeit, das waren die 1980er-Jahre in den USA vor allem in Bezug auf Aids. Tausende starben an der neuen Epidemie.

Aber während Aids zunächst vor allem in der Schwulenszene wütete, wandte sich der Rest der Gesellschaft vom Elend ab. Fünf Jahre schwieg Ronald Reagan, sprach über die als „Schwulenpest“ diffamierte Krankheit erst 1985. Scharf wurde er dafür kritisiert, vorgeworfen wurde dem Präsidenten, durch sein Schweigen am Tod vieler Erkrankter mitverantwortlich zu sein.

Aber auch in anderer Hinsicht war die Reagan-Ära für den linken Liberalen Kushner eine mörderische Zeit. „Es ist tatsächlich das Ende des Liberalismus“, lässt er seine Bühnenversion des ultrakonservativen, 1986 an den Folgen von Aids gestorbenen Top­anwalts Roy Cohn im Stück sagen: „Das Ende des New-Deal-Sozialismus. Das Ende des ipso facto säkularen Humanismus.“ Eine von sozialer Kälte und Egoismus geprägte Zeit, in der die Hoffnung auf Emanzipation und eine gerechtere Welt auf eine harte Probe gestellt wurde.

1993, vier Jahre nach dem Ende von Reagans Präsidentschaft, schrieb Kushner seine „Gay Fantasia on National Themes“, so der Untertitel von „Engel in Amerika“. Ein komplex verschachteltes, siebenstündiges Panorama. Kushner bringt unter anderem ein schwules Paar auf die Bühne, das nach einer Aids-Diagnose zerbricht; einen schwulen Republikaner und Mormonen nebst seiner Valium-abhängigen und agoraphobischen Frau, der mit seiner sexuellen Identität ringt. Kushner lässt den Geist der gehenkten Kommunistin Ethel Rosenberg auftreten und einen höhnisch übers Geschehen lachenden Engel durchs Bühnenbild brechen.

Ein Stück, das ebenso polarisierte wie inspirierte. Im konservativen Mittelwesten ging man auf die Barrikaden, verglich den Juden Kushner mit den Nazis. Auf der anderen Seite wurde Kushner mit dem Pulitzer-Preis und dem Tony Award ausgezeichnet, Homosexuelle outeten sich, Aidskranke schöpften Mut. Denn Kushner lässt seine Figuren die Hoffnung nicht aufgeben, dass die Menschen sich, ihre Welt doch verändern können.

Genau diese Hoffnung greift Regisseur Bastian Kraft nun in seiner auf drei Stunden verdichteten Inszenierung von „Engel in Amerika“ auf, die am heutigen Samstag im Thalia Theater Premiere feiert. Interessant findet Kraft, „dass wir uns nun 15 Jahre nach der Jahrtausendwende befinden und im Stück dezidiert benannt wird, dass die Figuren der Wende entgegenfiebern“. Angesichts der Krisen, die Kushners Figuren damals schon spürten, stehe die Frage im Zen­trum, ob es die westliche Zivilisation angesichts immer schneller aufeinander folgender Krisen schaffe, eine neue Orientierung zu finden, einen neuen Sinn für Gemeinschaft.

Im Rückblick fragt Kraft nun: „Hat man es geschafft oder ist das von diesen Fragen umrissene Vakuum größer geworden?“ Wo findet man den Punkt, an dem es sich trotz aller düsteren Aussichten lohne, weiterzumachen, weiterzukämpfen?

Kraft sieht das Stück einerseits historisch stark verhaftet. Auf der anderen Seite spreche es sehr Grundlegendes an: „Es sind grundsätzliche Themen wie Egoismus oder die Sehnsucht nach und die Unfähigkeit zu Beziehungen, vor allem die Frage: Was halten zwischenmenschliche Beziehungen, was hält eine Zivilgesellschaft aus?“

Tatsächlich wirkt das Stück für ihn auch nach 22 Jahren noch erstaunlich aktuell, berge seine filmische Erzählweise und verschachtelte Konstruktion für das Theater auch heute noch Sprengkraft. „Die Homosexuellen, die Aids-Kranken, aber auch die ethnischen und religiösen Minderheit sind im Stück nicht die Randgruppen, sondern die Protagonisten. Es zeigt, dass wir alle eigentlich Außenseiter sind.“

Eine fast prophetische Qualität stecke so im Stück, die sich auch auf aktuelle Krisen wie die Flüchtlingskrise übertragen lasse. Und in Krafts Augen auch heute Hoffnung mache: „Der Mensch ist vielleicht doch zu mehr fähig, als Kulturpessimisten ihm zugestehen wollen.“

Premiere: Sa, 17. 10., 20 Uhr, Thalia Theater. Weitere Aufführungen: 18., 24. + 29. 10.; 18., 28.+ 29. 11.