American Pie
: Die Ziege nervt

BASEBALL Die Chicago Cubs wollen ihre einmalige Negativserie beenden und endlich einmal die World Series gewinnen

Jake Arrieta ist 29 Jahre alt, 1,93 Meter groß und 102 Kilo schwer. Er ist verheiratet, hat eine Tochter und einen Sohn. Er wandert gern, ist ein begeisterter Fahrradfahrer, trägt einen Vollbart und hält sich mit Pilates fit. Kurz, Jake Arrieta ist ein echter Langweiler. Aber Jake Arrieta ist auch der Grund, dass die Baseball-Fans in Chicago fest daran glauben, dass ihre geliebten Cubs endlich mal wieder die World Series gewinnen und diese Sache mit der Ziege zu den Akten legen können.

Denn die Sache mit der Ziege nervt. Seit 107 Jahren haben die Cubs nicht mehr den Titel gewonnen. Eine im US-Profisport einmalige Serie, die dem traditionsreichsten MLB-Klub den Spitznamen „Lovable Losers“ eingetragen hat: Es gibt keinen Klub in einer der großen vier nordamerikanischen Ligen, kein Eishockey-Team in der NHL, keine Football-Mannschaft in der NFL, keinen NBA-Klub und keinen anderen Baseball-Verein, der schon so lange auf den großen Triumph wartet wie die „liebenswerten Verlierer“. Im legendären Wrigley Field, dem über 100 Jahre alten Stadion der Cubs, begegnen die erstaunlich duldsamen Zuschauer deshalb unter dem Motto „Wait’til next year“ jeder neuen Niederlage mit fatalistischer Selbstironie.

Seit 1945 gibt es immerhin einen Schuldigen an der Misere. Damals standen die Cubs zum letzten Mal in der World Series. Einer Ziege namens Murphy wurde der Zutritt ins Stadion verweigert, obwohl sie eine gültige Eintrittskarte besaß. Ziegenbesitzer William Sianis, Betreiber der bis heute existierenden Kneipe „The Goat Tavern“, hatte seinen tierischen Werbeträger als Glücksbringer mit auf die Tribüne nehmen wollen. Die Platzanweiser hatten etwas dagegen, Zuschauer hatten sich über Murphys strengen Geruch beschwert. Der Ziegenbock wurde weggeschickt und Sianis stieß die verhängnisvollen Worte aus, die als „Der Fluch der Ziege“ in die amerikanische Folklore eingehen sollten: „The Cubs ain’t gonna win no more.“

Heute Nacht beginnt die Mission der Cubs, Murphys Vermächtnis zu besiegen. Bei den Pittsburgh Pirates treten sie zum Wild-Card-Game an. Ein Sieg, dann stünden sie im Viertelfinale. Die Hoffnungen ruhen dabei auf dem momentan besten Pitcher Jake Arrieta. Seit Mitte Juli ist Arrieta 20 Mal eingesetzt worden und 16 Mal haben die Cubs gewonnen, nur ein einziges Mal verloren. Und eine seiner guten Statistiken ist besonders beeindruckend: Ein ERA von 0,86. So gut war noch nie jemand in der zweiten Saisonhälfte einer Major-League-Saison. Das bedeutet, dass Arrieta hochgerechnet in einem gesamten Spiel nicht einmal einen einzigen Run zulässt. Ein „earned run average“ in der Nähe von drei gilt schon als sehr gut, alles mit einer Zwei vor dem Komma ist Weltklasse.

„Irre“ und „unglaublich“ findet das der Kollege Jason Hammel, die Gegner fühlten sich „hilflos“ angesichts seinen aus fünf verschiedenen Pitches bestehenden Wurf-Arsenals, und die Analysten bescheinigten Arrieta eine „Leistung für die Geschichtsbücher“. Der zum Ziegentöter Auserkorene erklärte trocken, über seinen Lauf werde er „nachdenken, wenn die Saison vorbei ist. Am Mittwoch geht es um alles.“

In der Stadt ist die Angst groß, die Pechsträhne könnte sich fortsetzen. Ein Neffe von Sianis durfte schon mehrfach Nachkommen von Murphy über den Rasen des Wrigley Field führen. Zwei Mal drapierten Fans eine geschlachtete Ziege auf einem Denkmal vor dem Stadion. 2011 wurde eine NGO mit dem Namen „Reverse the Curse“ gegründet, die Geld sammelt, um Familien in Entwicklungsländern mit Ziegen zu versorgen. Erst vor zwei Jahren fand Cubs-Eigentümer Thomas Ricketts einen abgeschnittenen Ziegenkopf in seiner Post. Nichts davon hat geholfen. Nun ist Jake Arrieta dran. Thomas Winkler