Deutscher Wurstsalat und syrischer Couscous

Flüchtlingshilfe Ein Programm bringt Mentoren mit Flüchtlingskindern zusammen. Mohamed (11) und Nicolas Flessa (36) sind ein Tandem und unternehmen einmal in der Woche etwas. So kommt Mohamed aus der engen Welt des Flüchtlingsheims heraus

Da war der Herbst noch sonnig und warm: Mohamed unternimmt zusammen mit seinem Mentor Nicolas Flessa eine Bootstour Foto: Lia Darjes

von Nerges Azizi

Mohamed wartet schon, wenn Nicolas Flessa mit dem Wagen die Einfahrt zum Flüchtlingsheim auf dem Gelände der ehemaligen Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik in Reinickendorf nimmt. Oft wartet mit dem elfjährigen Mohamed auch eins seiner drei Geschwister, heute ist es seine kleine Schwester Galliya. Einmal pro Woche ist Nicolas Flessa Mohameds Mentor und unternimmt mit seinem Schützling Dinge, die beiden Freude bereiten. Diesmal soll es zum Motorbootfahren an den Tegeler See gehen.

Mohamed stammt aus Aleppo in Syrien. Nachdem ihr Haus bombardiert war, beschlossen die Eltern, gemeinsam mit den vier Kindern nach Europa zu fliehen, und landeten in Berlin (siehe Kasten). Obwohl das Verfahren noch nicht abgeschlossen ist und der Anwalt Beschwerde einlegte, hat die Familie im August nur eine Duldung statt einer Aufenthaltsgestattung von der Ausländerbehörde ausgestellt bekommen – damit hat sie das Recht, sich nur zur Durchführung eines Asylverfahrens in Deutschland aufhalten zu dürfen.

Die unsichere Lage ist Mohamed bewusst. „Jetzt sind wir noch hier, aber wenn die Papiere ablaufen, müssen wir wieder gehen”, befürchtet er. Die Sorgen der Eltern und die traumatisierenden Erfahrungen, die Mohamed im Laufe der Flucht sammeln musste, machen es ihm schwer, sich hier – in dem fremden Land – willkommen und zu Hause zu fühlen. „Hier im Heim ist immer Streit. Unser Bett ist kaputt, aber keiner kommt, um es zu reparieren.“

Und dann ist da noch eine andere Belastung: Die Kinder müssen oft Verantwortung für ihre Familien übernehmen, zum Beispiel als ÜbersetzerInnen. Diese Rolle hat in Mohameds Familie zum größten Teil die dreizehnjährige Fatima, die älteste der vier Geschwister, inne. Aber wenn Mohamed mit seiner Mutter einkaufen geht, hilft er ihr natürlich auch – sie hat bisher keinen Deutschkurs besucht.

Damit Mohamed auch fröhliche Momente erlebt

Dass Mohamed und andere Flüchtlingskinder auch fröhliche Momente erleben können, ist Ziel des Mentoringprojekts „Kein Abseits!“. Der gemeinnützige Verein wurde 2011 von Sinem Turaç und Gloria Amoruso gegründet. „Wir hatten genug von der theoretischen Integrationsdebatte und wollten etwas verändern“, erzählt Gloria, „ganz nach dem Motto: nicht reden, sondern handeln.“

Das Programm widmete sich zunächst neun bis dreizehnjährigen Kindern aus bildungsfernen Familien. 2014 wurde es auf Flüchtlingskinder ausgeweitet. Es geht insbesondere darum, den Kindern Aktivitäten und Unternehmungen mit anderen Berlinern – Mentoren – zu ermöglichen, die ihnen sonst aufgrund ihres sozialen Hintergrunds verwehrt bleiben würden. Bisher wurden berlinweit 130 Tandems aus Mentor und Mentee gebildet und vom Verein begleitet. 60 weitere Tandems sollen hinzukommen.

Das Mentorenprogramm für Mohamed bedeutet, den deutschen Alltag kennenzulernen und seine Freizeit wie „andere Kinder“ zu verbringen: „Wenn Nicolas kommt, erlebe ich tolle Dinge“, sagt der Junge.

Das tut not. Nicolas Flessa erzählt, das Mohamed aufgrund der abgeschiedenen Lage des Flüchtlingsheims außerhalb der Projekte von „Kein Abseits!“ nicht regelmäßig mit Berlinern in Kontakt kommt, mit denen er Deutsch sprechen könnte. Die Familie wohnt in einem kleinen Zimmer – über 900 Flüchtlinge leben auf dem Gelände der Flüchtlingsunterkunft, der größten Berlins.

Eine Patenschaft ist auf acht Monate angelegt

Acht Monate dauert eine Patenschaft. Nicolas Flessa wurde Mentor, weil er sich neben seiner journalistischen Tätigkeit auch praktisch in der Flüchtlingshilfe engagieren wollte. „Durch mein Ägyptologiestudium und einen längeren Aufenthalt in Kairo fühle ich mich dem Nahen Osten sehr verbunden. Die Nachrichten über die Kriege dort erschrecken mich besonders. Meine größte Angst ist, einmal selbst zur Flucht gezwungen zu sein …“

Eine Freundin machte Flessa auf das Programm aufmerksam. Anfänglich hatte Flessa Bedenken: Würde die Familie seines Mentees ihm vertrauen, wenn er sich einmal wöchentlich mit ihrem Kind treffen würde? Gut, dass es vorab zwei Schulungen für die Mentoren gibt, bei denen pädagogische sowie psychologische Fragen beantwortet und Kontaktadressen für Probleme angeboten werden.

Nicolas Flessa hatte auch Sorge, neben seinem stressigen Berufsalltag die Zeit für das Mentorenprogramm zu finden. Und würde die Chemie zwischen den beiden stimmen? Doch diese Vorbehalte stellten sich als unbegründet heraus: „Ein Tag mit Mohamed ist wie Kurzurlaub“, sagt Flessa, Mohameds Lachen sei herzergreifend.

Mohameds Familie nahm die Route über Istanbul und Bulgarien nach Deutschland. Die Eltern und vier Geschwister liefen zu Fuß von der Türkei über Griechenland nach Bulgarien, wo sie Asyl beantragen mussten und über drei Monate inhaftiert wurden. Erst durch einen kollektiven Hungerstreik kamen sie und andere Flüchtlinge wieder auf freien Fuß. Sie erhielten „humanitären Schutz“ in Bulgarien – das bedeutet: amtliche Papiere, aber keine Unterstützung, keine Schule, keine Arbeit, kein Geld für eine Wohnung.

Als die Situation nach einem Jahr untragbar wurde, das Geld komplett ausging und es keine Perspektive mehr gab, beschloss die Familie nach Deutschland zu reisen. Doch der „humanitäre Schutz“, der in Bulgarien gewährt wurde, wird ihnen in der Bundesrepublik zum Verhängnis: Nach dem Dublin-Verfahren muss der Staat, in den ein Asylbewerber nachweislich zuerst eingereist ist, das Asylverfahren durchführen. Auch die neue Regelung für Syrer, die nicht mehr in die Herkunftsländer zurückgeschickt werden sollen, in denen sie Asyl beantragt haben, greift nicht, da die Familie ja schon in Bulgarien einen Aufenthaltstitel zugesprochen bekam. Nun kämpfen Mohameds Eltern mit einem Anwalt um eine Einzelfallprüfung. (na)

Mohamed und Nicolas Flessa führen Tagebuch

Bei den gemeinsamen Treffen setzt Nicolas auf sportliche Aktivitäten wie Squash, Bowling und Billard, da sein Mentee sich sehr gern bewegt. Ab und zu grillen oder kochen die beiden mit der ganzen Familie oder gehen ins Kino.

Über ihre Unternehmungen führen beide Tagebuch, damit nichts in Vergessenheit gerät. Das Bowling kommentiert Nicolas Flessa zum Beispiel mit „4:1 für Nicolas. Manchmal war es ganz schön knapp, weil Mohamed am Ende immer 9 auf einmal trifft.“ Mohamed sieht das aber anders und schrieb: „Ich war heute Bowling und sehr schlecht.“ Am tollsten findet Mohamed, dass er von Nicolas Flessa schwimmen lernt.

Beim Durchblättern der Tagebuchseiten amüsieren sich die beiden und staunen, wie sehr sich Mohamed seit seiner Ankunft vor acht Monaten verändert hat: Früher hatte er längere Haare, jetzt sind sie kurz – und Mohamed ist gewachsen. Und weil er nicht so gern schreibt, sind die beiden dazu übergegangen, das Tagebuch mit Fotos zu füllen.

Der Papa wollte keine Geburtstagsfeier

Die Bootstour hat hungrig gemacht, Nicolas Flessa schlägt vor, zum Italiener zu gehen, bei dem sie letztes Mal waren. In der Pizzeria kommt der Kellner und verrät verschwörerisch Galiya: „Du bekommst die Pizza extra perfekt geschnitten, der Rest kann sich ruhig etwas mehr mit Messer und Gabel aufhalten.“

Trotzdem ist Mohamed als Erster mit seiner Pizza Margherita fertig und darf sich auch zwei Stücke von der kleinen Schwester nehmen.

Am Nachbartisch feiert eine Gruppe Geburtstag. „Ich glaube, das kleine Mädchen am Anfang des Tischs ist die Prinzessin“, rät Galiya. „Unser Vater hatte gestern Geburtstag, er wollte ihn aber nicht feiern“, erzählt Mohamed. „Aber wieso denn nicht?“, fragt Nicolas Flessa. „Das ist ihm irgendwie nicht so wichtig“, antwortet Mohamed und lächelt ein wenig verlegen.

Neben den schönen gemeinsamen Erfahrungen gibt es auch andere schwierige Momente zu meistern, etwa wenn die Kinder von ihrem Leben in Aleppo erzählen. „Deutschland ist schön“, sagt Mohamed, „aber Aleppo war schöner. Ich vermisse meine Oma. Und in Aleppo waren alle immer nett.“

„Wenn Nicolas kommt, erlebe ich tolle Dinge“

Mohamed übers Mentorenprogramm
Auch schwierige Momente aushalten

Gern leben sie nicht in ihrer Unterkunft, meint Mohamed. „Im Flüchtlingsheim muss man sich immer um alles streiten, und es ist so schmutzig. Wir haben nur ein Zimmer, da können wir nicht schlafen, wenn Papa im Internet mit Oma und Freunden spricht.“ Meist versucht Nicolas Flessa in solchen Situationen nicht zu tief bei Mohamed nachzubohren. Er möchte ihm eine Sphäre außerhalb der Probleme, die mit der Flucht verbunden sind, schaffen.

Auch wenn das Programm nun abgelaufen ist, trifft sich das Tandem noch regelmäßig. „Mittlerweile ist Mohamed wie ein Neffe für mich“, sagt Nicolas Flessa. „Mir ist wichtig, auch weiterhin seine Entwicklung mit zu verfolgen und zu erfahren, wie es der Familie ergeht.“

Nicolas Flessa ist überzeugt: Die rassistischen und xenophoben Vorurteile vieler Menschen gegen Flüchtlinge würden sich sicher in Luft auflösen, wenn sie echte Flüchtlinge kennenlernen würden.

„Ich bin immer wieder beeindruckt, wie höflich Mohamed und seine Geschwister sind. Sie achten immer darauf, Bitte und Danke zu sagen. Wenn ich in ihr Heim komme, schenken sie mir direkt ein Glas Wasser ein und reichen es mir, ohne dass sie von den Eltern erst dazu aufgefordert werden. Die Familie ist generell sehr gastfreundlich. Ich bin oft zum Abendessen da und nehme auch öfter mal Freunde mit.“

Und bei solchen Gelegenheiten gibt es dann auch gern mal deutschen Wurstsalat zu syrischem Couscous.