Wandel Chinas Regierung lockert die Ein-Kind-Politik. Aber an die Vorstellung von größeren Familien muss sich das Volk nach 35 Jahren erst wieder gewöhnen
: Land ohne Tanten

Chen Qianlei, 40, ist Berater. Gou Xia, 40, ist Journalistin. Chen Dingqi ist sieben. Sie hätten gern ein zweites Kind gehabt. Aber die Mutter ist Staatsangestellte. Sie wäre nicht nur bestraft worden, sondern es hätte sie auch den Job gekostet Fotos: Louis Quail/Picturetank/Agentur Focus

Aus Peking Felix Lee

Liu Jia horcht auf. Hat da wirklich jemand dieses ausgestorbene Wort gesagt? Tatsächlich. „Jiejie“, hört sie eine Kinderstimme rufen. „Jiejie.“ Große Schwester. Liu Jia blickt von ihrem Balkon im zweiten Stock auf den Park vor ihrem Haus: Eine junge Mutter sitzt auf einer Bank und versucht, das schreiende Kleinkind auf ihrem Arm zu beruhigen. Doch erst als ein kleines Mädchen im karierten, blauen Kleid gerannt kommt und dem Kleinen einen Zweig vors Gesicht hält, wird es stiller. „Jiejie“, brabbelt es, große Schwester.

Liu Jia ist 34 Jahre alt und wirkt ein wenig jünger. Sie hat grünen Tee und Kuchen auf einen Klapptisch gestellt. Vom Park steigt der Geruch frisch gemähten Rasens nach oben. Trotzdem sind unten auf der Wiese nur wenig Menschen. Dabei ist es ganz schön hier. Die Wohnverwaltung hat jede Menge Bäume gepflanzt, es gibt Blumenbeete und einen Spielplatz. Und auch die Wohnblöcke mit ihren 30 Stockwerken wirken geradezu verspielt und nicht ganz so trostlos wie die meisten modernen Bauten in Peking, weil ihre Fenster rot, grün und gelb sind. Kleine Kinder gibt es dennoch nur wenige.

Große Schwester. So hatte Liu Jia früher die drei Jahre ältere Nachbarstochter genannt, die ihr abends nach der Schule bei den Hausaufgaben half. Dass sie nun von ihrer Wohnung aus zwei echte Geschwister beim Spielen zusieht, das kennt sie nur aus Erzählungen. Denn eigene Geschwister hat sie keine. Und auch ihr Mann, der genauso alt ist wie sie, ist als Einzelkind aufgewachsen. Ihre Mutter hatte immerhin noch einen älteren Bruder. Doch dem ist sie nie begegnet. Und die Tante väterlicherseits kennt sie nur von Besuchen aus ihrer Kindheit. Ihre eigene vier Jahre alte Tochter ist ebenfalls Einzelkind. Sie hat weder Cousins noch Cousinen. Für sie ist „Tante“ keine Verwandte, sondern die Haushaltshilfe, die einmal die Woche für ein paar Stunden zum Putzen vorbeikommt. Daher hat Liu längst auch das Babyspielzeug ihrer Tochter verschenkt. „Brauchen wir nicht mehr“, sagt sie.

„Ich, mein Mann und meine Tochter“, sagt Liu Jia. „Wir sind das Ergebnis von Chinas Ein-Kind-Politik.“

Es ist ein sonniger Nachmittag. Liu Jia trägt ein graues T-Shirt und darüber, trotz der milden Temperaturen, eine Daunenjacke. Sie friere leicht, sagt sie. Liu arbeitet für ein Pekinger Magazin. Sie berichtet über Familienpolitik. Ein Thema, das ihre Leser gerade umtreibt. Es gehe um Erziehungsfragen, erzählt sie. Um kostspielige Schulen im Ausland. Wie gehe ich mit meinen Schwiegereltern um? Und um das zweite Kind.

Die chinesische Führung erlaubt seit etwas mehr als einem Jahr jedem Paar zwei Kinder. Die Voraussetzung: Mindestens ein Elternteil muss ein Einzelkind sein. Von einem Paradigmenwechsel spricht Liu Jia, gar von einer Revolution. 35 Jahre lang galt im bevölkerungsreichsten Land der Welt schließlich die strikte Ein-Kind-Politik.

Die neue Politik werfe viele neue Fragen auf, sagt Liu Jia. Für wen gelten die gelockerten Regeln? Dürfen auch geschiedene Eltern zwei Kinder haben? Wer kann sich das leisten, dass die Mutter zweimal für eine Babypause in ihrem Job aussetzt? Aber auch: Wer will überhaupt ein zweites Kind?

1,38 Milliarden Einwohner zählt China heute. So viele Menschen leben in keinem anderen Land. Es hätten noch sehr viel mehr werden können. Um das Wachstum zu reduzieren, verfügte Chinas Führung 1979: Jedes Ehepaar darf nur noch ein Kind bekommen. Hätte es die Ein-Kind-Politik nicht gegeben – die Bevölkerungszahl läge heute bei knapp 2 Milliarden und damit um 600 Millionen höher. Das zumindest behauptet die chinesische Führung.

Die Regel: 35 Jahre nach ihrer Einführung steht die Ein-Kind-Politik in China vor ihrem Ende. Aus ranghohen Parteikreisen heißt es, noch in diesem Jahr werde offiziell verfügt, dass alle Eltern zwei Kinder bekommen dürfen. Ende 2013 hatte Peking zwar schon eine Lockerung beschlossen. Danach dürfen aber nur ­Paare zwei Kinder haben, von denen ein Partner Einzelkind ist.

Die Sorge: Mit der Reform ­reagiert die Kommunistische ­Partei auf Forderungen von Demografen, die schon seit einiger Zeit vor der Alterung der Gesellschaft warnen. Schon jetzt ist fast jeder siebte Chinese über 60 Jahre alt.

„Die Welt wird es China einmal danken“, sagte Staats­chef Deng Xiaoping damals, als er die Ein-Kind-Politik einführte. Sie sei ein wesentlicher Grund für Chinas erfolgreiche Armutsbekämpfung gewesen, urteilte die Weltbank vor ein paar Jahren. Der britische Economist bezeichnete die Ein-Kind-Politik im vergangenen Herbst als eine der wichtigsten Maßnahmen zur Eindämmung des weltweiten CO2-Ausstoßes. Ohne sie wären bis 2005 rund 1,3 Milliarden Tonnen mehr Kohlenstoffdioxid in die Erdatmosphäre geblasen worden.

Die Politik hat ihren Preis: 300 Millionen Abtreibungen haben die Behörden in den vergangenen 30 Jahren vorgenommen – viele davon erzwungen. Ältere Chinesen erinnern sich an das Jahr 1983: 14,4 Millionen Abtreibungen, 29,7 Millionen Sterilisationen. Die Weltbank beklagt dann auch, dass diese Maßnahmen nicht nur einen schweren Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des Menschen darstellten, „sondern auch in das Selbstbestimmungsrecht“.

Feng Jianmei war mit ihrem zweiten Kind im siebten Monat schwanger. Am 30. Mai 2012 kamen Beamte aus der Kreisstadt, verbanden ihr die Augen und brachten sie an einen unbekannten Ort. Am dritten Tag erschienen fünf Männer und injizierten ihr Gift in den Fötus. Am 2. Juni um drei Uhr morgens gebar sie ein totes Kind.

Feng ist Bäuerin, sie stammt aus der nordwestlichen Provinz Shaanxi und lebt im ländlichen Bezirk Zengjia. Die nächste Großstadt mit Bahnhof ist rund 50 Kilometer entfernt. An diesem Vormittag sitzt sie auf einer schmalen Bank an einem quadratischen Holztischchen in einem kleinen Imbiss. Neben ihr läuft der Fernseher. Sie hat eine ausgebleichte Bluse an, ihre Haare sind sehr viel länger als auf dem Bild, das von ihr vor drei Jahren veröffentlicht wurde. Sie sieht auch sehr viel dünner aus. Bei sich zu Hause treffen wollte sie sich nicht. „Wochenlang lag ich schwer benommen im Bett“, erinnert sie sich an die Zwangsabtreibung. Nun will sie eigentlich nicht mehr über dieses Thema sprechen. Sie habe damit abgeschlossen. Nur so viel: Sie habe sich wieder gefangen. Ihrer inzwischen achtjährigen Tochter gehe es gut, sie gehe zur Schule. Ihr Mann habe auch wieder Arbeit. Vor allem aber, und das ist das Ungewöhnliche: Die Verantwortlichen wurden bestraft.

Nach der Zwangsabtreibung hatte ihr Mann ein Foto von ihr ins Internet gestellt. Sie lag in einem Krankenbett, neben ihr der zwangsabgetriebene Fötus. Die Öffentlichkeit war geschockt, das Bild ging um die Welt. „Eine Schande für ein zivilisiertes Land“, kommentierte jemand im Internet. Ein anderer fragte: „Warum kann das große China nicht einen weiteren Menschen aufnehmen?“

Zunächst fühlten sich die Behörden noch auf der sicheren Seite. Schließlich war es nicht das erste Mal in den vergangenen 30 Jahren, dass so etwas in China geschah.

Die zuständigen Beamten schüchterten die Familie ein, sorgten dafür, dass ihr Mann seinen Job verlor. Feng Jianmeis Tochter, die damals fünf Jahre alt war, sollte nicht in die Schule gelassen werden.

Die neue Politik wirft Fragen auf. Für wen gelten die gelockerten Regeln? Und: Wer will überhaupt ein zweites Kind?

Dieses Mal allerdings reagierte die Führung anders. Sie ließ die zuständigen Beamten rauswerfen, außerdem wurde Feng Jiamei „finanzielle Hilfe“ zugesprochen. „Keine Entschädigung“, erinnert sich ihr Mann. Auf diese Formulierung legten sie sehr viel Wert. Und trotzdem: ein Zeichen, dass das Umdenken begonnen hatte.

Nein, sie verspüre keine Wut mehr, sagt Feng, die heute 25 Jahre alt ist. Sie und ihre Familie wollten bloß noch ihre Ruhe. Und es gebe ja Fortschritte.

Die Ein-Kind-Politik hat die Volksrepublik grundlegend verändert. Chinas Kultur ist heute eine andere. Liu Jia, die Journalistin, schaut wie viele andere gern südkoreanische Serien. Sie guckt sie nicht im Fernsehen, da nervt die Werbung sie, sondern auf Videoportalen im Netz. Den chinesischen Serien fehle es an Tiefe, sagt Liu. Und an Familiensinn.

In koreanischen Soaps, zählt Liu Jia auf, gebe es nicht einfach nur Schwestern und Brüder, Tanten und Onkel. Sie seien alle durchnummeriert. Die älteste Tante heißt Große Tante, dann kommt Tante zwei, Onkel drei und der Kleine Onkel. Die Verwandten mütterlicherseits heißen anders als die des Vaters. Selbst der Großcousin hat eine eigene Bezeichnung. Und zwischen jedem gebe es Streit und Intrigen, aber auch Liebe und Fürsorge. „Das war in China früher auch mal so“, sagt Liu. Nun gibt es nur noch zwei Eltern und vier Großeltern. Letztere buhlen alle um ein Kind – die kleine Kaiserin, den kleinen Kaiser.

Liu ist selbst als Einzelkind aufgewachsen. Als Teil der Post-80er-Generation wird sie in China bezeichnet. Diese unterscheidet sich fundamental von der Generation, die in den 70er Jahren geboren wurden. Die 80er-Generation hat die turbulenten Jahre der Kulturrevolution nicht mehr erlebt, keinen Hunger, keine Mangelwirtschaft. Schon sie sei in ihrer Kindheit von ihren Eltern, Tanten und Großeltern gehätschelt worden, erzählt sie. Eine Untersuchung australischer Forscher von 2013 hat ergeben: Wer nach 1980 geboren wurde, ist meist nicht nur viel egoistischer als die Kinder, die vorher auf die Welt kamen und noch Geschwister haben. Die Einzelkinder seien auch weniger risikobereit, misstrauischer und scheuten eher den Wettbewerb. Die Forscher, die dafür 400 Pekinger befragten, attestierten ihnen zudem gesteigerten Pessimismus, Nervosität und Empfindlichkeit.

Ja, das könne sie von sich bestätigen. „Meine Eltern haben sich noch nicht so viele Sorgen um die Zukunft gemacht wie ich“, sagt Liu. Auch ihre Tochter hält sie für völlig verzogen. Besonders ihrer Schwiegermutter gibt sie dafür die Schuld. Bei ihr heiße es immer „chi, chi, chi“, sobald ihre Enkelin anfange zu schreien: „Iss, iss, iss.“ Und wenn der Tochter kalt sei, werde sie von der Großmutter mit immer mehr Kleiderschichten bedeckt, anstatt sie aufzufordern, sich einmal zu bewegen. „In Erziehungsfragen trennen uns Welten.“

Als die Volksrepublik 1949 gegründet wurde, lebten in China etwa 540 Millionen Menschen. In den 1950er Jahren stieg die Bevölkerungszahl trotz niedriger Lebenserwartung stark an. Mao, der zum „Großen Sprung nach vorn“ aufrief und auf einen Schlag das bis dahin weitgehend landwirtschaftlich geprägte China auf den Entwicklungsstand einer Industrienation hieven wollte, löste eine Hungerkatastrophe nie gekannten Ausmaßes aus. Wahrscheinlich kamen deutlich mehr als 30 Millionen Menschen in weniger als zwei Jahren ums Leben. Weil die Überbevölkerung wie ein weiterer Grund für die Hungersnot erschien, wurden die ersten Kampagnen zur Geburtenplanung initiiert. Abtreibungen waren nun erlaubt, erste Verhütungsmittel wie Kondome und Spiralen wurden verteilt.

Gao Wen Hong, 41, ist CEO einer Kosmetikfirma. Wang Wei, 41, ihr Mann, ist dort Direktor. Wang Ying Chen ist sieben. Der Mutter reicht ein Kind. So könne sie all ihre Kraft darauf konzentrieren, sagt sie. Die Tochter ist Klassenbeste

Chinas Kulturrevolution stoppte die Kampagnen ab 1966. Die Geburtenrate schoss wieder in die Höhe. Sie lag in manchen Jahren bei 3 Prozent und mehr. Sechs, acht Kinder pro Ehepaar waren nicht selten. Das Land drohte wegen Übervölkerung zu ersticken. Dachte man. Dachte Deng Xiaoping.

„Alles Humbug“, sagt heute Cai Yong. Der Soziologe wurde in China geboren, lehrt und forscht derzeit aber in Chapel Hill an der University of North Carolina in den USA. Er beschäftigt sich seit mehr als 20 Jahren mit der demografischen Entwicklung seines Heimatlandes und schildert die jahrzehntelange Diskriminierung. So mussten viele Familien ihre überzähligen Kinder jahrelang vor den Behörden verstecken, konnten sie nicht impfen lassen oder zur Schule schicken. Cais Onkel beispielsweise wollte unbedingt einen Jungen. Er und seine Frau versuchten es immer wieder – und bekamen dabei sechs Mädchen. Für diese gesetzeswidrig geborenen Kinder musste der Onkel hohe Strafen zahlen.

Cai bezweifelt, dass Chinas Bevölkerung immer weiter gewachsen wäre, und hält die Behauptung, die Ein-Kind-Politik habe 400 Millionen zusätzliche Neugeborene verhindert, für reine Propaganda, die Forscher und Medien aus aller Welt nachbeteten. Statistiker hätten die Geburtenrate der frühen 50er Jahre mit einem steilen Strich einfach bis in die Gegenwart verlängert. Eine völlig falsche Annahme, kritisiert Cai. Mit zunehmendem Wohlstand gehe die Zahl der Kinder ganz von selbst zurück.

Seinen Untersuchungen zufolge fiel der größte Rückgang der chinesischen Geburtenrate denn auch gar nicht in die Zeit ab 1980, als die Ein-Kind-Politik eingeführt wurde. Die Zahl war schon vorher deutlich zurückgegangen, von sechs Kinder Anfang der 70er Jahre auf 2,8 zehn Jahre später. Nach den wirren ersten Jahren der Kulturrevolution nämlich erholte sich das Land ab 1972 langsam. Es gab erste Aufklärungskampagnen: Später heiraten, weniger Kinder, lautete das Motto. Diese Kampagnen verliefen noch ohne Zwangsmaßnahmen. Nach Einführung der drakonischen Strafen ab 1980 sank die Fortpflanzungsrate nur noch minimal. 1990 lag sie weiter bei 2,5 Kindern pro Frau.

Nicht die Ein-Kind-Politik war ausschlaggebend für Chinas Geburtenrückgang, sondern der Wohlstand, sagt Cai Yong. „Die Grausamkeiten hätte sich die chinesische Führung also sparen können.“

„Die Grausam­keiten hätte sich die chinesische Führung also sparen können“, sagt der Forscher

Zugleich gibt es wegen der Ein-Kind-Politik einen Männer­überschuss. Vor allem viele Eltern auf dem Land wollen lieber einen Jungen und treiben Mädchen ab. Auf zehn heiratswillige Frauen kommen in China derzeit zwölf heiratswillige Männer. 2020 wird es nach Angaben des demografischen Instituts CPIRC in Peking einen Überschuss von 40 Millionen jungen Männern geben. In vielen chinesischen Städten finden jedes Wochenende Heiratsmärkte statt.

In Schanghais Fuxing-Park sitzen Eltern und Großeltern am Wegesrand und halten große Fotos von ihren Söhnen oder Enkeln hoch. Sie werben so um eine Partnerin. Nicht junge Frauen schauen sich das Angebot an, sondern andere Mütter, Väter und Großeltern. Sie treffen eine Vorauswahl. Den jungen Männern und Frauen, die vermittelt werden sollen, ist es zu unangenehm, selbst auf dem Heiratsmarkt zu erscheinen. Schon jetzt fehlen ganzen Regionen in China junge Frauen, weil sie sehr viel eher bereit sind als Männer, ihre Heimatdörfer zu verlassen, und in die großen Städte ziehen. Diese Regionen drohen zu verrohen. Es ist nachgewiesen, dass der Aggressionspegel in Gesellschaften mit hohem Männerüberschuss steigt, ebenso der Alkoholismus.

China steht vor einem noch viel gravierenderen Problem: der Überalterung. Waren Anfang der 1980er Jahre die Hälfte der Chinesen noch 22 Jahre oder jünger, wird die Zahl der über 60-Jährigen von derzeit um die 100 Millionen bis 2030 auf mehr als 300 Millionen steigen. Das entspricht in etwa der heutigen Bevölkerungszahl der USA. Jeder vierte Chinese ist dann 60 oder älter. Schon jetzt weiß die chinesische Führung nicht, wie sie ihre vielen alten Menschen versorgen soll. Wie wird es dann erst in zehn Jahren aussehen?

Auch deswegen hat sie die Ein-Kind-Politik gelockert. In Fernsehwerbespots wird nun die vierköpfige Familie zum Ideal erklärt. Und auch auf großflächigen Plakaten in der Pekinger U-Bahn wird für ein zweites Kind geworben. Experten vermuten, dass schon bald auch Eltern mit Geschwistern ein zweites Kind bekommen dürfen. Auf einen Schlag aufheben will die chinesische Führung die Geburtenkontrolle nicht. Die herrschenden Kommunisten müssten zugeben, dass ihre Bevölkerungspolitik gescheitert ist – das wäre ein Gesichtsverlust. Dies einzugestehen sind sie nicht bereit.

Zeng Shao Lin, 43, ist Hausfrau. Yang Wei Jun, 42, arbeitet als Fahrer. Yang Heng ist zwölf. Sie hätten gern noch ein Kind, aber die Strafe könnten sie nicht bezahlen. Das hätte sie wohl depressiv gemacht, sagt die Mutter

Liu Jia findet es eigentlich selbstverständlich, dass sich ein Staat aus der Familienplanung heraushält, sagt sie. Sie schreibt das auch in ihrem Magazin: „Ich halte das Ende der Ein-Kind-Politik für richtig und gesellschaftlich notwendig.“ Für sie selbst kommt ein zweites Kind aber nicht infrage. „Zu teuer“, sagt sie. „Zu aufwändig. Und zu karrierehemmend für zwei berufstätige Elternteile.“

Sie zählt auf: Umgerechnet 300 Euro an Kitagebühren müsse sie pro Kind im Monat aufwenden. Dabei verdient sie mit ihrem Mann zusammen doch nur rund 1.500 Euro. Ihre Wohnung mit zwei Schlafzimmern konnten sie sich zu zweit vor fünf Jahren gerade noch so leisten. Heute müsste sie für eine Wohnung mit einem weiteren Zimmer in Peking das Dreifache hinblättern. Und dann kämen Klavierunterricht hinzu, am Wochenende der Schwimmkurs, die Kosten für die Nachhilfe am späten Nachmittag und das Sparen fürs Studium.

„Natürlich, all das mussten wir früher nicht ausgeben, weil es die Dinge nicht gab“, sagt sie. Hinzu komme, dass sie ihren Job für ein zweites Kind nicht aufgeben wolle. Auch nicht zeitweise. „Ich verdiene momentan mehr als mein Mann.“

Obwohl die meisten Chinesen vor 40 Jahren sehr viel ärmer waren, bekamen sie trotzdem sehr viel mehr Kinder.

Die Ansprüche seien heute aber eben andere, sagt Liu. Sie zeigt auf das Familienfoto von ihrem Disneyland-Besuch in Hongkong, das groß über ihrer Wohnzimmercouch hängt. Die Zeit lasse sich nun mal nicht zurückdrehen.

Felix Lee, 40, ist China-Korrespondent der taz. Er hat einen Bruder