mitschriften aus der letzten reihe (zwei)
: Zeichen und andere blinde Flecken ausloten

Ob sich das Zentrum für Literaturforschung bewusst oder intuitiv für den Ort seiner Jahrestagung entschieden hat, ist unklar. Zumindest findet die Jahrestagung über „Intuition und Kalkül“ im getäfelten Einsteinsaal der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften statt. Hier treffen sich an diesem Donnerstag Wissenschaftlerinnen und Forscher, um zu erörtern, wie man sich mit philologischen und kulturwissenschaftlichen Methoden den Naturwissenschaften nähern kann. Denn auch dort müsse man Zeichen und Erkenntnisse lesen und deuten, und dies sei ja auch die Methode der Philologen. Neben der Institutsdirektorin Sigrid Weigel, Kunst- und Wissenschaftshistorikern trägt auch Carl Djerassi, der Erfinder der „Pille“, vor.

Caroline Welsh und Stefan Willer leiten die Tagung ein und beginnen mit einem Zitat von Sherlock Holmes. Die Sätze, die sie vorlesen, sind so lang wie die Thomas Manns. Außerdem wird Edgar Allan Poe, darauf einigt man sich rasch, zum Schutzheiligen der Tagung erklärt. Der Dichter hatte 1841 in seiner Detektivgeschichte „Die Morde in der Rue Morgue“ die Wechselwirkung von Intuition und Analyse thematisiert: „Seine Ergebnisse“, schrieb Poe über den Analytiker, „erbracht wohl ganz im Wesen und Geiste der Methode, haben in Wahrheit durchaus den Hauch von Intuition an sich.“ Gerade im 19. Jahrhundert sei eine Sichtweise entstanden, die die Intuition für die Künste reservierte und das Kalkül für die Naturwissenschaften. Aber ist diese Unterscheidung nicht konstruiert? Welches Wissen käme zutage, wenn man die Perspektiven verschiebe, so die Fragen der Forscher an diesem Abend.

Mit ihren Fragen bleiben sie aber unter sich: Im Publikum sitzen meist Wissenschaftler; es gibt kaum Zuhörer, die nicht zumindest irgendetwas mit einer Universität zu tun haben. In den Beiträgen geht es um das „Ausloten der blinden Flecken“, um das „Sondieren der Schnittstellen“, an denen sich die einzelnen Disziplinen der Wissenschaften überlappen – „… das Gefühl der Liebe entspräche einer rechtsdrehenden Spiralbewegung der Hirnmoleküle“ lautet denn auch das Motto eines Vortrags.

Was das Mitschreiben betrifft, so kann man bei dieser Tagung das Verhalten der Profis studieren. Der Profi schreibt auf festes Papier, das in ästhetischen Kladden von einem Stoffband zusammengehalten wird. Das Modell „Moleskine“ ist in dieser Spezies am häufigsten vertreten. Nur selten werden ein paar Stichworte auf dem einen oder anderen losen Blatt Papier notiert, und auch in den gemeinen Spiralblock schreibt nur ein vereinzelter Student etwas auf. Aber der kommt auch mit langem Zopf und Jeans zur Tagung und bildet mit der lippengepiercten Buchverkäuferin aus ästhetischer Sicht die Ausnahme. Es dominiert vielmehr die Sakkoträger-Fraktion, man gibt sich seriös. Eine Frau erscheint am ersten Tag noch in Jeans und bunter H&M-Jacke; als sie am zweiten Tag eine Diskussion moderiert, trägt sie Schwarz-Weiß.

Ab und an verweist man auf die Stars der Wissenschaft. Sigrid Weigel erwähnt, dass sich Warburg auch mit Botticellis Figuren und den „Pathosformeln“ beschäftigt habe, um mit dem Begriff deren Haare, flatternde Gewänder und Beweglichkeit zu beschreiben. „Da klingelt es bei uns“, sagt sie später, als sie sich an den Begriff der „Heterotopie“ im Werk Foucaults erinnert fühlt. Bei mir klingelt in dem Moment nichts. Das Einzige, was selbst auf dieser Tagung klingelt, ist ein Handy. Glücklicherweise nicht meins. KATHRIN KLETTE

Eine Bildungskolumne – in Zeiten von Wissensgesellschaft und strategischer Selbstbewirtschaftung quasi ein Muss. Ab jetzt wird alle zwei Wochen in Vorträgen gesessen und um Verständnis gerungen. Bis zum Semesterende.