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strafplanet erde: utschl gestern und heute von DIETRICH ZUR NEDDEN

Ein stahlblauer Himmel über ihm, eine Hauptstadt voller Tücken und Fallstricke abwärts, also unten mit reichlich Bodenkontakt und Horizont erweiternd zugleich: So sah die Bühneneinrichtung aus, als ein weltfremder Mann aus der Provinz oben in der Kuppel des Berliner Reichstags am Geländer lehnte.

Wie er dorthin gelangt war, daran vermochte er sich nur fetzenweise zu erinnern. War er wie betäubt, da er ohne Unterlass Großstadt-Flair inhaliert hatte? Vielleicht hatte ihm jemand was geflüstert: Bald werde jeder Deutsche mit einer Sondersteuer belegt, der sein Desinteresse gegenüber dem zähen Kleister, dem so genannten Schicksal dieses so genannten Gemeinwesens offenbare, indem er die Teilhabe, zumal den Aufstieg, zumal den aufs Dach des Parlaments verweigere?

Wie dem auch sei, der Weg des weltfremden Mannes aus der Provinz in das hochkant gedrehte Glasauge ward begleitet von einer Grübelei, verursacht von den Baumaßnahmen vor dem Portal. Artig werkelten Soldaten an einer Tribüne. Bis Aufklärung stattfand. Das Militär warf sich reihenweise Sitzschalen in die Arme, damit dort bald vor Publikum ordentlich was wegsalutiert werden konnte. Und wenn’s regnete, würde der Oberst den Drillich verfinstern und die Manöver-Beobachter wieder nicht voll getroffen werden.

Oben war viel Volk und produzierte Enge. Die Inspektion der Kuppel ist eine Win-Win-Win-Situation: Die Hauptstadt gewinnt an Metropolen-Pracht, der Staat Demokratie-Benefit und der Tourist gewinnt den Eindruck, die Aussicht sei Übersicht, Weitsicht, Einsicht. Es war so eng, dass der weltfremde Mann die Drängelei zunächst nicht persönlich nahm, die der Typ neben ihm sich anschickte, zu einer Belästigung umzugestalten. „Und?“, sagte der Drängler, „bist du auch Deutschland?“ Der Mann verbat sich das Du und hub an: „Sie sind spät dran. Zu spät! Die Kampagne, auf die Sie so plump anspielen, ist zu Ende dekliniert und passé. Selbst über satirische, parodistische, groteske Anmerkungen dazu gähnte man drei Tage nach dem Start. Gleichwohl will ich Ihnen antworten, weil ich heute leutselig gestimmt zu sein scheine. Ich war schon Deutschland oder, um mit F.W. Bernstein zu reden: Ich war schon Utschl, da gab es noch zwei. Da war der Zement noch nicht trocken, mit dem die Mauer verfugt worden ist. Aber …“ – plötzlich schob der weltfremde Mann sein Antlitz so nahe an den Nervtöter, dass sich beider Nasenspitzen fast berührten – „… aber ich war’s als Kind und nur für eine superkurze Zeit. Es war so: Zum Einschlafen hörte ich Deutschlandfunk. Kurz vor Mitternacht sagt eine Stimme: ‚Zum Tagesausklang hören Sie die Nationalhymne.‘ Daraufhin streichelte ein Streichquartett die Nationalhymne. Ich winkelte den Oberkörper aufrecht und salutierte militärisch. Bis ich nach einigen Malen erschrak und angeekelt gewahr wurde, was ich da Irrsinniges tat. Seitdem bin ich nie mehr Utschl gewesen. Im Gegenteil.“

Verstört wandte sich der Drängler ab. Hastig genug, dass ihm der letzte Satz des Weltfremden aus der Provinz entging. „Wo die Hysterie am größten“, sagte er, „da wächst das Kleingeistige auch.“ Was genau er damit meinte, sei dahingestellt. Da steht es aber gut.

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