: Improvisierte Collage
ZEITENWENDE Der Dokumentarfilm „Konzert im Freien“ von Jürgen Böttcher erzählt von der Geschichte des Marx-Engels-Forums
von Carolin Weidner
Jürgen Böttchers „Konzert im Freien“ beginnt nicht in Berlin, sondern in einer Fantasielandschaft. Krater gibt es dort und auch Nebel. Geheimnisvolle Klänge. Und dann erhebt sich aus dieser Luftsuppe eine vertikale Struktur. Es ist der Fernsehturm. Doch Berlin. Nun passen auch die Krater. Sie symbolisieren Auf- und Wegbau, Umbruch, Wandel, der sich in dieser Stadt immerzu vollzog und auch heute noch vollzieht.
„Konzert im Freien“ nimmt dabei einen besonderen Ort in Blick – das Marx-Engels-Forum zwischen Rathaus, Fernsehturm und Palast der Republik. Letzterer legt die Vermutung nahe, dass ein Film wie „Konzert im Freien“ heute mit gänzlich anderen, gänzlich anders absurden Blickachsen verfahren könnte und wohl auch würde. Die Bronzeköpfe von Marx und Engels starren 2015 nicht mehr auf den Fernsehturm, sondern auf die Humboldt-Box und das neue alte Stadtschloss. Nicht mehr nach Osten, sondern gen Westen. Was sie sich nur denken?
2001 ist Böttchers Film entstanden, aber nicht alle seine Teile stammen auch aus dieser Zeit. Ein Gros setzt sich aus Aufnahmen der 1980er Jahren zusammen. Böttcher widmet sich in ihnen der Entstehung jener Skulpturen, die Teil des Ensembles sind, trifft Bildhauer und Bildhauerinnen weit ab der Hauptstadt und befragt sie zu ihrer Arbeit.
So ist man zu Besuch bei Margrit Middell am Barther Bodden, wo ein Bronzerelief zum Thema „Die Würde und Schönheit freier Menschen“ entsteht. Oder stößt auf Bildhauer Werner Stötzer, in Vilmnitz auf Rügen, der aus Marmor aus Carrara Ausdrucksstarkes zur Vorgabe „Alte Welt“ schlägt. Natürlich gastiert man auch bei Ludwig Engelhardt in Gummlin auf Usedom. Seit 1974 arbeitet Engelhardt dort an seiner prominenten Marx-Engels-Figur. 1986 wird das Ensemble endlich eingeweiht.
Aber das ist nur ein Rahmen des Films, wenn auch ein eigenständiger, wundervoller, weil er die Künstler bei ihrer Arbeit in ihrer Umgebung zeigt. Manchmal wird sogar ein Lied angestimmt. Es geht auch nicht vorrangig um Ideologisches. Böttcher zeigt etwa Werner Stötzer beim lauten Denken, wie er sagt: „Wie schwer ist es zu begreifen, wer ich bin. Kann ich’s. Kann ich einen Vers schreiben? Kann ich eine Skulptur machen?“ Dann haut Stötzer wieder in den Stein, erklärt, raucht.
Der zweite Teil der Dokumentation, er ist mit dem ersten verschränkt, beschäftigt sich sozusagen mit dem Nachleben der Anlage, gut fünfzehn Jahre später. Böttcher filmt Touristen. Vor allem aber Günter „Baby“ Sommer und Dietmar Diesner. Jazzmusiker. Gefühlt über Wochen, bei Regen und Sonne, Tag und Nacht, improvisieren beide auf dem Platz.
Sachte verschiebt sich im Laufe von „Konzert im Freien“ das Augenmerk auf die Musiker, verschiebt sich die Perspektive ins Jetzt. Man sieht Graffiti. Und einige der Gesichter jener Bildgravuren, die man (unter dem Titel „Der weltrevolutionäre Prozess seit Marx und Engels bis in die Gegenwart“) einst in acht Stahlplatten einbrannte, sind zerkratzt. Die von Böttcher „angewiesenen“ Jazz-Improvisation bilden einen interessanten Kommentar dazu. In ihnen liegt ein abgründiger Humor, auch etwas Anarchisches, etwas, das sich spielend über das Regelhafte erhebt, sich amüsiert. „Improvisation ist keine Methode, sondern vielmehr ein Bewusstseinszustand und unverzichtbare Basis eines wahren Schaffensprozesses“, hat Jonas Mekas in seiner Schrift „Notes on the New American Cinema“ festgehalten.
Und die Oktober-Ausgabe der Magical History Tour im Arsenal, zu dem auch Böttchers „Konzert im Freien“ gehört, nimmt sich jene Überlegungen zum Geleit. Folglich steht Böttchers dokumentarische Collage neben Eric Rohmers „Vier Abenteuer von Reinette und Mirabelle“ (F 1986) oder Jack Smiths „Normal Love“ (USA 1963) mit Mario Montez in der Rolle einer Camp-Meerjungfer. Die Reihe verbandelt mittels des Improvisations-Vehikels aber auch Peter Lorre mit Jean Rouch oder Elia Kazan mit Robert Altman. Sie alle verbindet laut Programm ein improvisatorisches Moment. Möchte man Jonas Mekas glauben, lohnen ein paar Kinogänge also allemal.
Der Film „Konzert im Freien“ läuft am 11. 10. um 20 Uhr sowie am 15. 10. um 19. 30 Uhr in der „Magical History Tour – Improvisation im Film“ im Kino Arsenal. Vollständiges Programm der „Magical History Tour“-Reihe im Kino Arsenal unter www.arsenal-berlin.de
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen