Den freiwilligen Flüchtlingshelfern wird zunehmend suggeriert, für alle Missstände verantwortlich zu sein und das ist unfair, sogar zynisch
: Verknappen, was eh schon knapp ist

Foto: Lou Probsthayn

Fremd und befremdlich

KATRIN SEDDIG

Erster Sonntag im Oktober. Strahlender Sonnenschein. Die Felder sind abgeerntet, die Wintergerste gesät. In Siek, Kreis Stormarn, haben die Nordkirche und der Bauernverband am Sonntag das Landeserntedankfest gefeiert. Das ist, finde ich, ein hübscher Brauch, hübscher als das Oktoberfest. Es gibt zwar auch einen Umzug, mit Traktoren, aber die Leute tragen keine Dirndls und pinkeln nicht so wild herum. Die Leute sind natürlich auch viel weniger. Nur so ungefähr 300, in Siek, bei dem Umzug.

Auch in anderen Teilen Schleswig-Holsteins wurde gefeiert. Das ganze Jahr wird gepflanzt und beackert und am Ende dann, wenn es alles abgeerntet ist, kann man sich auch mal freuen. Oder dankbar sein. Gott, oder dem Bauern, oder der Erde, oder einfach der Natur, die trotz all des Gifts und Mülls immer noch so weitermacht.

Die Bischöfin der Nordkirche, Kirsten Fehrs, erinnerte daran, dass Erntedank von Gott her immer mit Gerechtigkeit und Teilen zu tun habe und wies in diesem Zusammenhang auf die Situation der Flüchtlinge hin. Die werden auch in Schleswig-Holstein immer mehr. Und essen wollen die Flüchtlinge auch. Man schickt sie zur Tafel und da heißt es dann am Montag bei shz.de: „Flüchtlinge stürmen Tafeln in Schleswig-Holstein. Lebensmittel werden knapp.“

Über 50 Tafeln gibt es in Schleswig-Holstein. Die Tafel ist eine gemeinnützige Organisation, die Lebensmittel aus den Supermärkten vor dem Wegschmeißen bewahrt und zum Essen ausgibt. Die entsprechenden Läden allerdings müssen die Lebensmittel freiwillig spenden. Meist sind die Lebensmittel kurz vor dem Ablaufen und können deshalb nicht mehr verkauft werden.

Etwas an dieser Sache hat mich schon immer befremdet. Es ist ja tatsächlich so, dass die Supermärkte viel Zeug wegwerfen. Dieses Wegwerfen ist natürlich schlimm und es ergibt sich teilweise auch daraus, dass die Regale immer gefüllt sein müssen, dass halbleere Regale am Abend den Einkäufer empören. Wenn es da am Abend nur noch vier Sorten Brot gibt und nicht mehr alle 24 Sorten, dann ist der Einkäufer enttäuscht, denn der Einkäufer möchte in einer Art Vielfältigkeitsparadies unterwegs sein, wo er die volle Auswahl hat. Er möchte nicht den Rest nehmen, obwohl am Abend natürlicherweise nur noch der Rest übrig sein könnte, wenn nicht der Rest am Abend im Brotregal das ganze volle Brotregal sein soll.

Diesen Rest kriegen dann aber in manchen Fällen also die Menschen, die so bedürftig sind, dass sie ihr Essen bei der Tafel beziehen. Natürlich ist das besser, als dass sie ihr Essen nirgendwo her beziehen. Und natürlich ist das Essen weder vergammelt noch sonst irgendwie minderwertig. Es ist vielmehr das gleiche Essen, das wir auch im Supermarkt hätten kaufen können. Was nervt mich also daran? Es nervt mich, weil es Armenspeisung ist.

Es wird, nehme ich jedenfalls mal an, selten missbraucht, denn wer geht zur Armenspeisung, wenn er nicht arm ist? Wer will denn „gespeist“ werden? Und wie würdevoll ist so ein Vorgang? Die Flüchtlinge können sich freilich solche Ressentiments ebensowenig leisten wie die anderen Armen. Dass sie jetzt hier mit Bussen sogar zu den Tafeln gefahren werden, wo sie auch noch „gespeist“ werden sollen, zusätzlich, zu den Anderen, wo sie dann zwangsmäßig etwas verknappen, was eh schon knapp ist, folgt das etwa einem Plan?

Die Notlagen, in die jetzt auch immer mehr Helfer geraten, drücken vor allem doch die, die ohnehin schon Gutes tun, oder das zumindest versuchen. Da wird den Leuten suggeriert, ihr macht doch hier eh schon dieses ganze „Gutsein“, dann seid ihr für diese Sache jetzt aber auch noch mit verantwortlich. Aber verantwortlich können in der Flüchtlingssituation doch nicht allein die Freiwilligen und gemeinnützigen Organisationen sein. Das wäre unfair und sogar zynisch.

Katrin Seddig ist Schriftstellerin in Hamburg mit Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr jüngster Roman „Eine Nacht und alles“ ist bei Rowohlt Berlin erschienen.