„Die Stadt ist deswegen so attraktiv, weil man sich hier noch für zehn Euro besaufen kann“

Das bleibt von der Woche Ein Anwohner fühlt sich empfindlich vom Kreuzberger Myfest gestört und hat dagegen eine Klage eingereicht, die Fahrt mit dem Nahverkehr wird mal wieder teurer, beim Kulturetat knausert man weiterhin bei der freien Szene, und in der Politik setzt man auf beschleunigte Asylverfahren

Hier die Party, dort die Politik

Klage gegen das Myfest

Selbst die Bürgermeisterin findet, die Party ist zu voll. Und stellt sie in Frage

Mit Niederlagen umzugehen fällt Berlin nicht leicht, wie jede neue Panne am BER aufs Neue belegt. Aber die Stadt tut sich auch schwer mit Erfolgen. Das Myfest am 1. Mai in Kreuzberg ist so einer: Seit Jahren wird die Party rund um die Oranien­straße voller und voller. Dieses Jahr kamen 50.000 Menschen – zu viele, wie selbst Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann befand, die prompt das Fest an sich in Frage stellte.

Doch die Debatte darüber währte nur kurz. Und wenn am vergangenen Wochenende nicht die Klage eines Anwohners gegen das Fest bekannt geworden wäre, würden sich am 1. Mai 2016 sicher wieder viel zu viele Menschen durch die Straßen schieben. Dass es dazu kommt, ist nun weniger wahrscheinlich: Der Anwohner argumentiert, er habe am 1. Mai ab 14 Uhr seine Wohnung nicht mehr erreichen können, es sei zu voll gewesen; durch die vielen Grills habe Brandgefahr bestanden. Das Fest sei in dieser Form nicht mehr genehmigungsfähig.

Ihren ursprünglichen Zweck hat die 2003 erstmals veranstaltete Party erfüllt: Polit-Randale gibt es nur noch am Rande. Doch seinem auch politischen Anspruch wird das Straßenfest schon lange nicht mehr gerecht: Für viele Anwohner, die hier Köfte und Bier verkaufen, ist es eine tolle Einkommensquelle. Gleichzeitig steigen seit einigen Jahren die Teilnehmerzahlen der Revolutionären 1.- Mai-Demo um 18 Uhr wieder deutlich. Der Wunsch nach politischer Äußerung, nach einem Ritual ist also vorhanden. Wie geht all das künftig zusammen?

Gar nicht. Wer die Super-Sause retten will, muss das dafür gesperrte Gelände massiv ausweiten, damit sich die Besucher besser verteilen – und sich eingestehen, dass Kreuzberg am 1. Mai vor allem Party ist. Für die Demo indes braucht es eine Route weit jenseits der Saufmeile.Bert Schulz

Tot wie ein Index

Preiserhöhungen im ÖPNV

Um Menschen zum Umsteigen zu bewegen, müsste der Tarif eigentlich sinken

Weniges ist unangenehmer für Politiker, als den Wählern die Rechnung präsentieren zu müssen. Also ganz konkret: Steuern, Gebühren, Bußgelder, auch die Tarife der Verkehrsunternehmen, die der öffentlichen Hand gehören. Wenn’s ums Geld geht, tut es am meisten weh.

Beim Berliner ÖPNV ist das nicht anders, aber hier wäscht die Politik inzwischen ihre Hände ostentativ in Unschuld. Denn auch wenn im Senat an der Tarifschraube mitgedreht wird, hält am Ende doch der Verkehrsverbund VBB den Kopf hin. Außerdem greift seit letztem Jahr ein vermeintlich neutraler Mechanismus: der Index.

Dieser Index soll die allgemeine Preissteigerung – also die Inflation – abbilden, mit stärkerer Gewichtung von Kraftstoffen und Strom. Etwas komplizierter wird es dadurch, dass die Preis­entwicklung der vergangenen fünf Jahre zugrunde gelegt wird.

Außerdem, und da wird es wirklich problematisch, ist nicht ersichtlich, nach welchen Kriterien das errechnete Preis-Plus auf die einzelnen Tarife umgelegt wird. Die steigen ja nicht alle um 1,84 Prozent – so die am Mittwoch vom VBB verkündete Zahl –, sondern mal mehr, mal weniger. Diesmal dürfen sich GelegenheitsfahrerInnen freuen: Die meisten Einzelfahrscheine behalten ihren Preis. Draufzahlen müssen ab 1. Januar Stammkunden, die Monatskarten einzeln oder im Abo kaufen.

Die jetzige Erhöhung sei „der niedrigste Wert seit Start des Verbundtarifs 1999“, beschwichtigt der VBB, und so ist es ja auch. Große Wellen wird diese Tariferhöhung also nicht schlagen. Trotzdem lohnt es, auf die Stimmen der Kritiker zu hören, des Fahrgastverbands Igeb oder der Grünen. Für deren ­Verkehrsexperten Stefan Gelbhaar wird die Entscheidung, wie der Index umgelegt wird, immer noch politisch gefällt. Er fordert deshalb, sich ganz davon zu verabschieden: „Der Index ist tot.“

Zumal, so Gelbhaar und andere, die Preise sinken müssten: um mehr Menschen zum Umsteigen zu bewegen, um treue Kunden für ein Angebot zu kompensieren, das oft nicht rund läuft. So etwas kann kein Index leisten. Claudius Prößer

Junge Kunst verdurstet

Entwurf des Kulturetats

Die junge Kunst und kleine Bühnen dürfen sich weiter nach der Decke strecken

Vor ein paar Wochen hat der Schriftsteller Peter Schneider („Lenz“) im Radio ein paar bemerkenswerte Dinge über das Künstlerdasein in Berlin gesagt. Die Stadt sei – unter anderem – für die Szene darum so attraktiv, meinte der Altlinke, weil man sich hier noch für zehn Euro besaufen kann. Das stimmt. In Paris, London oder Moskau reicht so wenig Geld nicht.

Party ist sicher eine Sache, warum es die KünstlerInnen in Scharen auf Berlin abgesehen haben. Die Regierungskoalitionäre aus SPD und CDU haben am Montag im Abgeordnetenhaus in der Debatte über den Kulturetat 2016/2017 einmal mehr die eigentlichen Gründe ins Spiel gebracht, warum Berlin zum Hotspot für die jungen Wilden avanciert ist: Hier gibt es Raum und Geld, die Unterkunft ist billig, es gibt Anregung, Kommunikation und Spielstätten en masse. Berlin steht synonym für ein modernes Laboratorium für bildende Künstler, Musik- und Theaterleute, Tanzkompanien, Medienfreaks und Schriftsteller. Be Berlin – be ein Künstler, könnte man sagen.

Man weiß im Abgeordnetenhaus längst, dass die Szene sowie die junge Kunst ein Hauptbestandteil des Stadtmarketings geworden sind. Beide gehören zur Kulturindustrie der Stadt, mit welcher der Regierende Bürgermeister und Kultursenator Michael Müller mächtig für Berlin trommelt. Dafür hat er auch im Haushaltsentwurf 2016/17 den Etat um rund 50 Millionen Euro auf insgesamt 522 Millionen Euro aufgestockt, „um der Kultur mehr Spielräume zu ­geben“.

Doch wer genau dabei viel Spielraum erhält, steht ebenso im Haushaltsentwurf: Das sind die Leuchttürme unter den großen Opern und Theatern. Die Volksbühne und das Berliner Ensemble etwa erhalten dicke Summen für ihre neuen Intendanten. Auch das Humboldtforum wird alimentiert, ebenso gibt es Tarifsteigerungen in Millionenhöhe für die künstlerischen Mitarbeiter.

Auch die junge Kunst und die kleinen Bühnen erhalten ein paar Milliönchen mehr – was immerhin ein Anfang ist. Doch dass diese sich insgesamt weiter nach der Decke strecken dürfen, hat die Etatdebatte gleichermaßen gezeigt. Und statt der mal angekündigten 10 Millionen jährlich aus der City-Tax für die freie Szene gibt es nur 3,5 Millionen Euro. Das ist zu wenig.

Nicht stadtmarketingreif ist da die Meldung, dass einige Kinder- und Jugendtheater schon mal ihre Insolvenz angekündigt haben. Und die Ensembles einen trinken gegangen sind. Weil sie eben am Verdursten sind – im übertragenen Sinn. Rolf Lautenschläger

Der Deckel muss weg!

Frage der Integration

Asylverfahren ­beschleunigen: auf den ersten Blick keine dumme Idee

Asylverfahren beschleunigen: Das will nicht nur die Bundesregierung, das wollen auch Sozialsenator Mario Czaja und Justizsenator Thomas Heilmann (beide CDU). Sie präsentierten Anfang der Woche ihre Vorschläge dafür. Angesichts der Asylbegehrenden, die oft Wochen warten, bis ihnen auch nur eine Unterkunft zugewiesen wird, und dann noch Monate, um den Asylantrag zu stellen, scheint das auf den ersten Blick keine dumme Idee.

Doch wer schnellere Asylverfahren will (und von Flüchtlingen Integration erwartet), muss auch am Ende des Verfahrens den Deckel öffnen, der anerkannten Flüchtlingen diese Integration bislang versperrt. Tausende sitzen in Berlins Flüchtlingsheimen fest, weil sie keine Wohnungen bekommen. Und es gibt keine Beratungs- oder Vermittlungsstelle, die ihnen bei der Suche hilft.

Die Integration der Anerkannten in den Arbeitsmarkt ist den Jobcentern überlassen, spezielle Angebote oder Beratungsstellen gibt es kaum. Das (von Arbeitssenatorin Dilek Kolat, SPD) viel gelobte Projekt Arrivo kann gerade mal 100 Menschen für handwerkliche Berufe qualifizieren. Dabei sind gerade unter den syrischen Flüchtlingen viele AkademikerInnen: Laut Bundesamt für Asyl geben 25 Prozent von ihnen eine Hochschulausbildung an, fast doppelt so viele wie unter Asylsuchenden gesamt.

Diese meist hochmotivierten Menschen sitzen in den Jobcentern BeraterInnen gegenüber, die von deren Integration in oder Nachqualifizierung für den Arbeitsmarkt kaum Ahnung haben.

Schließlich wurden sie vor zehn Jahren mit der Aufgabe gegründet, Druck auszuüben und Sanktionen zu verhängen: ­gegen jene angeblich faulen Langzeitarbeitslosen, die der damalige Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) mit Parasiten verglichen hatte. (Nicht nur) bei der Arbeitsintegration ausländischer AkademikerInnen hilft das jedoch kaum.

Für Flüchtlinge bedeutet das oft wieder monatelanges Warten: etwa darauf, dass nach Abschluss eines Sprachkurses der nächste bewilligt wird. Ärzte, die sich selbst Hospitationsplätze gesucht haben, um die Kenntnisse für die zur Zulassung nötige Fachsprachprüfung zu erwerben, berichten, dass Jobcenter diese dann nur für maximal sechs Wochen bewilligen, auch wenn der nächste Sprachtest erst viel später stattfindet: So seien eben die Vorschriften. Stattdessen sollen sie im Heim sitzen und – warten.

Die vorhandenen Instrumente reichten zur Integration der Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt aus, heißt es bislang vom Senat. Wer bei beschleunigten Asylverfahren vor allem auf beschleunigte Abschiebungen hofft, mag das so sehen. Wer Integration will, sollte besser genauer hingucken. Alke Wierth