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„Ordnungswahn muss enden“

Migration Die Göttinger Projektgruppe „kritnet“ forscht seit 2008 zu Migration und Grenzregimen

Sabine Hess

Foto: privat

46, ist Professorin für Kulturanthropologie an der Uni Göttingen und Mitbegründerin von „kritnet“.

taz:Frau Hess, womit befasst sich eigentlich die Forschung zu Grenzregimen?

Sabine Hess:Wir haben uns seit Anfang der 2000er im Rahmen des Forschungsprojekts Transit Migration mit dem Ausbau der Grenzpolitik beschäftigt. Damals gab es einen virulenten Diskurs um die „Festung Europa“. Dem wollten wir mit einem empirischen Bild von konkreten Konflikten entgegentreten.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Forschungsbeginn damals und der Flüchtlingssituation heute?

Unsere Prognosen waren damals, dass die Autonomie der Migration, die Hartnäckigkeit, das Begehren nach einem neuen Leben, jede Grenze überrollen wird. Das hat sich jetzt auf dramatische Weise bewahrheitet. Es klingt zynisch, aber wir können sagen: Hättet ihr damals unsere Studien ernst genommen, hättet ihr früh den Mythos ablegen können, mit militärischen Mitteln die Flüchtlinge von den Toren Europas abzuhalten.

Sind sichere Fluchtwege nach Europa die Lösung?

Natürlich. Legale, sichere Einwanderungswege, das Ende der rassistischen, restriktiven Visapolitik und das Einrichten humanitärer Korridore – das wäre das Gebot der Stunde. Wir müssen uns mit NGOs zusammensetzen und nachdenken, welche Vorstellungen wir entwickeln können, damit der Ordnungswahn und die Verschärfung der Asylgesetze aufhört. Es ist absurd: Das hochgerüstete Grenzregime ist unter den Händen weggebrochen und jetzt wird für noch schärfere Gesetze plädiert.

Wie wird sich die Situation in den Aufnahmelagern entwickeln?

Die Flüchtlinge, die den Weg hierher gekommen sind, sind politisiert. Sie haben erfahren, was es heißt, sich kollektiv zusammenzutun. Dies führt zu den nächsten Zyklen an heftigen Lagerkämpfen, die wir schon jetzt voraussagen können. Da müssen wir schauen, wie sich zivilgesellschaftliche Gruppen mit rein bringen und sich Solidaritäten formieren lassen.

Interview: Fabio Kalla

Auftakt der 12. „kritnet“-Tagung mit Aktivisten-Podiumsdiskussion: 19 Uhr, Rote Flora