der anfang der normalzeit
: HELMUT HÖGE und seine Wahrheit

Mein ständiger Kampf gegen den AL-Flügel in der Berlin-Redaktion

„Die letzte Seite“ des taz-Berlin-Teils war eine Idee von Gerd Nowakowski und ein Vorläufer der „Wahrheit“-Seite – beschränkt auf den Lokalteil, der vor 89 nur Westberlin „bediente“. Die Letzte Seite sollte die Kür zur Pflichtberichterstattung auf den anderen Seiten sein: ihr Abbremser quasi.

Anders als „Die Wahrheit“ wurden ihre Formate jedoch nicht mit Satire und Fakes gefüllt, sondern mit dem, was so alles zwischen dem Berlin-Politikteil und den Berlin-Kulturseiten durchfiel. Nowakowski nannte es „das spezielle Lebensgefühl hier“.

Wie sollte man das täglich „einfangen“? Ich war allein für die Seite verantwortlich, sechs Tage in der Woche, sodass eigentlich nur am siebten Zeit zum Ausschlafen und Recherchieren blieb. Meine Idee war, verschiedene Textsorten dabei jeweils zu einem Thema zu sammeln. Zum Beispiel „Krankenhaus“: eine allgemeine Einschätzung von einer Krankenschwester (Mariam Nirumand in diesem Fall), ein Bericht von einem Patienten, ein Foto von einem offenen Herzen (aus dem Herzzentrum), ein paar Doktorwitze und eine Rezension von zwei Büchern über die historische Entwicklung des Berliner Gesundheitswesens sowie eine kurze Kritik an der Umbenennung der AOK, die sich nicht mehr Kranken-, sondern Gesundheitskasse nannte.

Einem Diktum von Thomas Kapielski folgend, wonach immer nur Leute hierher zogen, die im Malen eine 1 und im Rechnen eine 5 hatten, wurden oft statt Fotos auch Bilder von Künstlern abgedruckt. Aus dieser Szene – grob gesagt aus Kreuzberg und Schöneberg – kamen dann auch die meisten Fans der Letzten Seite.

Die meiste Kritik kam überraschenderweise aus der Berlin-Redaktion, und zwar jeden Morgen. Zwar ging es dabei oft nur um Formalien („eine zu kurze Überschrift“), aber dahinter steckte der Unmut von mehrheitlich AL-nahen Redakteuren gegenüber den Autonomen, die sogar eine Kolumne auf der Letzten Seite hatte, die mit „muz“ unterschrieben war: „menschenverachtend und zynisch“ – so lautete zumeist der AL-Vorwurf gegenüber ihre Aktivitäten im „Kiez“, die sich zu der Zeit nicht selten auch gegen die AL richteten.

Diese Situation war zuvor bereits derart ungemütlich geworden, dass die Vollversammlung der taz die Berlin-Redaktion für einige Zeit zur Besinnung in ein Ferienheim nach Westdeutschland geschickt hatte. Währenddessen sollte ich zusammen mit dem Theaterkritiker Dr. Seltsam, der EDV-Mitarbeiterin Christine Engel und anderen eine Berlin-„Ersatztaz“, machen, die natürlich auch autonomistisch ausfiel. Weil man befürchtete, ich würde dabei zu weit gehen, gab es noch eine Berlin-Redakteurin als Aufpasserin (im CvD-Rang), eine Bullentochter nebenbei bemerkt.

Ich erinnere mich, dass Christine ihr einmal einen Text vorlegte, woraufhin sie sagte: „So geht das nicht, du musst Nachricht und Meinung trennen, aus Letzterer kannst du einen Kommentar machen.“ Christine kuckte sie darauf an, als hätte sie Chinesisch geredet. Wir waren eine bunte (Not-)Truppe, das wollte ich damit sagen.

Aus dieser Buntheit hat Nowakowski dann als Light Version ein Letzte-Seite-Konzept entworfen, nachdem die Redaktion aus ihrem BRD-Urlaub zurückgekehrt war. Als ihr alleiniger Umsetzer ab November 87 machte mich jedoch die allmorgendliche AL-Kritik langsam mürbe. Außerdem verbrauchte mein Ehrgeiz täglich 40 Zigaretten und 14 Tassen Kaffee – und bevor mich das alles vollends zermürbte, schmiss ich 7 Monate später das Handtuch und war fortan wieder Autor. Erst einmal meldete ich mich jedoch arbeitslos.

Über das Letzte-Seite-Konzept stritten wir dann mit Arno Widmann weiter, der meinte: die Idee mit den thematisch zusammengestellten Textsorten sei Scheiße, denn jeder Text müsse gut sein und für sich stehen können – oder aber weg damit! Da ist was dran, praktisch sind jedoch ein paar ganz gute Seiten dabei rausgekommen.

Dies gilt glaube ich auch für die „Pornoseite“ am 9. März 1988, für die man mich zwei Wochen nach Ostfriesland in „Zwangsurlaub“ schickte. An dieser Seite fand die Berlin-Redaktion übrigens nichts zu kritisieren. Im Gegenteil: sie solidarisierte sich mit mir. Dafür mäkelte Elfriede Jelinek als Expertin daran herum. Man kann jedoch so eine für den Tag produzierte Seite nicht wie ausgefeilte Literatur behandeln.

Nach meiner Kapitulation im Mai 1988 übernahmen die Berlin-Redakteure abwechselnd die Letzte Seite – aber nur noch für einige Monate, dann wurde sie eingestellt. Wäre das nicht geschehen, hätte man sie spätestens nach dem Mauerfall einstellen müssen, denn dieser Künstler- und Intellektuellen-Scene, auf die sie sich als Autoren stützte, fiel zur Wende nichts mehr ein – bis heute (erwähnt seien die Endart-Leute und Wolfgang Müller, aber auch „muz“, die nach Wegfall ihrer Kolumne die KPD/RZ gründeten und dann ins Rathaus gewählt wurden, wo sie sang- und klanglos verschwanden).

1992 schlug mir Nowakowski eine noch kleinere Light Version vor: die „normalzeit“-Kolumne. Dafür brauchte ich jedoch ein Jahr Anlaufzeit, bevor ich für dieses saukleine Format den richtigen Ton fand – erstmalig am 6. Oktober 1993.

Inzwischen hat Helmut Höge über 500 Normalzeit-Kolumnen verfasst.