piwik no script img

„Bodenhaftung gewinnen“

BETEILIGUNG In sozial benachteiligten Stadtteilen sinkt die Wahlbeteiligung besonders, was tun?

Wilko Zicht

39, ist Wahlrechtsexperte und war an der Wahlreform in Hamburg beteiligt. Er sitzt in der Bremischen Bürgerschaft.

taz: Herr Zicht, sind Wahlen nur noch etwas für die akademisch ausgebildete Mittel- und Oberschicht?

Wilko Zicht: Leider ja. Wenn die Wahlbeteiligung sinkt, dann sinkt sie nicht gleichmäßig, sondern vor allem bei den sozial Schwachen. Für das Wahlergebnis ist das eine Katastrophe, weil es sozial nicht mehr repräsentativ ist.

Mehr als 24.000 Stimmzettel waren bei der vergangenen Landtagswahl in Hamburg ungültig. Wie könnte das vermieden werden?

Man kann besser aufklären, auf welchen Stimmzettel wie viele Kreuze gehören. Fast zwei Drittel der ungültigen Stimmen ließen sich mit sogenannten Heilungsregeln retten.

Heilungsregeln?

Stimmzettel mit eindeutigem Wählerwillen sind dann nicht mehr komplett ungültig, nur weil zehn statt fünf Kreuze gemacht wurden.

Besonders stark sank die Wahlbeteiligung in den bildungs- und finanzschwachen Stadtteilen. Ist das neue Hamburger Wahlrecht zu kompliziert?

Nein, wir beobachten das gleiche Phänomen auch bei Bundestags- und Europawahlen. Eine sinkende Wahlbeteiligung liegt zum Beispiel daran, dass viele Leute nicht mehr das Gefühl haben, eine Landtagswahl wäre für ihr persönliches Leben wichtig. Die Parteien sind nicht mehr so stark voneinander zu unterscheiden. Sie müssen mehr Mut entwickeln, konträre Positionen zu vertreten. Viele Leute haben außerdem das Gefühl, dass die Politiker selbst dank Globalisierung nicht mehr handlungsfähig sind.

Liegt die Verantwortung bei den Parteien?

Ja, sie müssen sich öffnen und mehr Bodenhaftung gewinnen. Das Wahlrecht schafft Anreize, kann die Parteien aber nicht zwingen.

Was muss passieren, damit die BürgerInnen wieder erreicht werden?

Das neue Wahlrecht würde besser funktionieren, wenn sich die Hamburger Parteien darauf einlassen würden. Momentan verweigern sie sich dem innerparteilichen Wettbewerb und drehen immer wieder an dem Wahlrecht. So kann es die gewünschten Effekte nicht entfalten.

Interview: Larissa Robitzsch

„Wählen zukünftig nur noch die Wohlhabenden?“: Podiumsdiskussion mit Parteienforscher Lothar Probst, Niklas Im Winkel (Bertelsmann Stiftung), Hamburgs Vize-Landeswahlleiter Oliver Rudolf und Wilko Zicht: 18 Uhr, Rathauspassage

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen