Medium der Meinungsvielfalt

RUNDFUNK Vor 70 Jahren markierte der Start des Nordwestdeutschen Rundfunks den Beginn des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Deutschland. Der Sender unterstützte den Aufbau der Demokratie

Die norddeutschen Radiogeräte blieben nicht lange still. Kaum 23 Stunden vergingen zwischen der letzten Erklärung des NS-Gauleiters Karl Kaufmann im „Reichssender Hamburg“ am Abend des 3. Mai 1945 und der Wiederaufnahme des Sendebetriebs einen Tag später. Am 4. Mai um 10 Uhr besetzten alliierte Truppen den unzerstörten Sender in der Hamburger Rothenbaumchaussee.

Bereits um 19 Uhr erklang die britische Nationalhymne im Radio, danach schepperte eine zweisprachige Ansage über den Äther: „Here is Radio Hamburg, a station of the Allied Military Government / Hier ist Radio Hamburg, ein Sender der alliierten Militärregierung.“

Fortan lauschten die Menschen etwa dem Suchdienst des Roten Kreuzes, der auseinandergerissene Familien und vermisste Soldaten nach dem Krieg wieder zusammenbrachte. Oder sie träumten ab 1951 mit dem Reisemagazin „Zwischen Hamburg und Haiti“, das bis heute auf NDR Info ausgestrahlt wird.

Ab dem 22. September 1945 firmierte das vormalige Radio Hamburg dann unter dem Namen Nordwestdeutscher Rundfunk (NWDR). Es entwickelte sich zur ersten Rundfunkanstalt des öffentlichen Rechts in Deutschland, ein Sender für die Länder Nordrhein-Westfalen, Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein.

Für Propaganda missbraucht

„Die Briten haben relativ schnell gesagt, dass sie die Verantwortung für den Rundfunk zurück in die Hände der Deutschen übergeben wollten“, erklärt Hans-Ulrich Wagner, Leiter der Forschungsstelle Mediengeschichte am Hamburger Hans-Bredow-Institut. „Dabei wollten sie natürlich gewährleisten, dass daraus nie wieder ein politisches Machtinstrument wie unter Goebbels wird.“ Die Nationalsozialisten hatten das Radio als Propagandainstrument missbraucht.

Die Politik sollte in die Programmgestaltung nicht direkt eingreifen können. Vorbild war die britische BBC. Maßgeblich verantwortlich für die Einführung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Deutschland war der Brite Hugh Carleton Greene, ein BBC-Journalist und Deutschlandexperte. Als „Chefarchitekt“ sollte er den Aufbau des NWDR verantworten.

Doch Greene hatte mit erheblichem Gegenwind zu kämpfen. Nicht alle hielten die Idee eines überparteilichen Rundfunksystems für sinnvoll. Konrad Adenauer (CDU) etwa bezeichnete die Idee als „Hinterlassenschaft der englischen Besatzung“ und als „harte Nuss, die es zu knacken gilt“.

Als die Kritik nicht verstummte, lud Greene Vertreter der Parteien SPD, KPD, CDU und FDP ein, einen 15-minütigen Kommentar über den NWDR zu produzieren. Da die einen Kritiker das Konzept als marxistisch bezeichneten und die anderen als anti-marxistisch, sah sich Greene in seiner Idee der Überparteilichkeit bestätigt.

Die Amerikaner fanden schnell Gefallen an Greenes Konzept und übernahmen es auch für ihre Besatzungszone. Der NWDR diente somit als Vorbild für alle öffentlich-rechtlichen Sender in Deutschland.

Am 1. Januar 1948 entließen die Alliierten den NWDR in die Unabhängigkeit. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Sender bereits drei Millionen Hörer. Der Sender trug zu ihrem Demokratieverständnis bei. „Der NWDR hat eine neue Diskussionskultur etabliert“, sagt Wagner.

„Niemand sagte ihnen mehr, was richtig ist“

Nach Jahren der einseitigen Propaganda wurden Aspekte nun von verschiedenen Seiten beleuchtet und sachlich diskutiert. „Die Hörer waren teilweise irritiert von der Meinungsvielfalt“, sagt Wagner. „Plötzlich hat ihnen niemand mehr gesagt, was richtig ist.“ In einem Brief beschwerte sich beispielsweise ein Hörer, weil am Ende einer Diskussionsrunde keine klare Ansage stand, sondern mehrere Meinungen.

Dies war nicht die einzige Kritik der Hörer. Als zu wortlastig und politisch empfanden viele das Programm, die sich für den Feierabend ein reines Unterhaltungsprogramm wünschten. Doch auch die Unterhaltungselemente blieben nicht frei von Gesellschaftskritik.

Monate bevor Wolfgang Borcherts Stück „Draußen vor der Tür“ über einen Kriegsheimkehrer seine Bühnenpremiere feierte, lief es erfolgreich als Hörspiel im NWDR. Die Hörerreaktionen gingen weit auseinander: Die einen, insbesondere junge Heimkehrer, sahen im invaliden Soldaten Beckmann eine Identifikationsfigur. Andere beschwerten sich über das leidige Thema Krieg und Schuld in der ohnehin schwierigen Nachkriegszeit.

Allzu lange blieb der NWDR nicht bestehen. Dass vier Landesparlamente, die von unterschiedlichen Parteien dominiert waren, über die Rundfunkgesetze entscheiden sollten, stellte sich als Hindernis dar. „Da trafen Welten aufeinander: Sozialdemokraten und Union, Katholiken und Protestanten, rheinische Frohnaturen und kühle Hanseaten“, erklärt Wagner. Irgendwann war klar: Das Konstrukt NWDR ist für ein so weitläufiges Sendegebiet ungeeignet.

1952 wurde die Trennung in NDR und WDR beschlossen und 1955 vollzogen. Damit war der erste öffentlich-rechtliche Sender zwar passé, doch wurde ein neues Kapitel aufgeschlagen, das bis heute dauert.  (epd)