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Sonderfahrt nach Bayern

Angekommen Rund 20.000 Asylsuchende treffen am Wochenende in München ein. Am Hauptbahnhof bleibt das befürchtete Chaos aus. Bahnpersonal, Polizisten, Freiwillige und Passanten helfen, wo sie können

aus München dominik baur

40.000 Flüchtlinge an einem Wochenende: Das war die Zahl, die noch am Freitag wie eine Drohung über der Stadt München hing. Es fehlte nicht an Hilfs- und Aufnahmebereitschaft – aber an Schlafplätzen, an Bussen, an Zügen.

Schließlich werden es dann zwar ein bisschen weniger, doch am Samstagabend wissen die Behörden nicht mehr, wohin mit den Menschen. Es ist längst dunkel, als der Zehntausendste Flüchtling des Tages am Hauptbahnhof ankommt – und gut tausend noch immer keinen Schlafplatz haben.

Es ist die erste Nacht, in der ein paar Dutzend Flüchtlinge auf Decken im Bahnhof nächtigen müssen. Dass das befürchtete totale Chaos ausgeblieben ist, liegt nur daran, dass es der Stadt im letzten Moment noch gelingt, ein Zelt mit 1.000 Schlafplätzen aufzustellen, und ein paar hundert Flüchtlinge noch mit einem Sonderzug nach Dortmund weitergeleitet werden können. Zwischenzeitlich heißt es sogar, die Münchner Olympiahalle werde als Notunterkunft geprüft.

Auch am Sonntag hält der Zustrom an. Die Deutsche Bahn und das private Bahnunternehmen Meridian sehen ihre Kapazitäten voll ausgeschöpft. Es ist das letzte Ferienwochenende in Süddeutschland. Am Mittag wird erstmals ein regulärer ICE von München nach Berlin zum Sonderzug für Flüchtlinge umfunktioniert. Die eigentlichen Passagiere, so bittet die Bahn, sollen umbuchen.

Immer wieder stellen sich Christoph Hillenbrand, der Präsident der Regierung von Oberbayern, und Dieter Reiter, Münchens Oberbürgermeister, am Hauptbahnhof vor die Journalisten. „Schulter an Schulter“, wie Hillenbrand betont. Am Samstagnachmittag ist die Botschaft unmissverständlich: Wir schaffen es nicht mehr!

Im Laufe der vergangenen Woche sind insgesamt über 60.000 Asylsuchende am Hauptbahnhof angekommen. Das sind mehr, als der Freistaat Bayern im gesamten Jahr 2014 aufgenommen hat. Dieses Wochenende nun erreichen die Zahlen den absoluten Rekord. Bei Redaktionsschluss geht man von mehr als 20.000 Flüchtlingen aus, die an diesen beiden Tagen in München aufschlagen.

An diesem Wochenende packen hier alle mit an

„Nach wie vor stehen die Regierung von Oberbayern und die Stadt München relativ allein da“, klagt Hillenbrand. Gerade mal 1.500 freie Plätze hätten die anderen Bundesländer am Samstag gemeldet. Besonders verstimmt geben sich Hillenbrand und Reiter über Äußerungen der Innenminister, ihre Bundesländer seien „am Anschlag“. „Wir sind hier einen Schritt weiter“, sagt der Regierungspräsident. Absolut dreist findet Reiter solche Äußerungen. Er lädt die Minister ein, nach München zu kommen und sich ein Bild davon zu machen, „was es heißt, am Anschlag zu sein“.

Direkt hinter der improvisierten Pressekonferenz am Starnberger Flügelbahnhof sind die Absperrgitter. Hier ist der Korridor, den die Polizei für die ankommenden Flüchtlinge geschaffen hat. Fast stündlich trifft ein neuer Zug mit ein paar hundert Flüchtlingen ein. Die Lage wirkt jedoch nicht so, als sei etwas außer Kontrolle geraten.

Allenfalls vielleicht die Hilfsbereitschaft der Münchner. Während eine ältere Dame einem weinenden Kind Süßigkeiten durch die Absperrung reicht, weisen die ehrenamtlichen Helfer andere Menschen, die mit Sachspenden an den Absperrgittern stehen, zurück. „Wir können das nicht mehr stemmen“, sagt ein Einsatzleiter und bittet die Menschen, die Kleidung direkt zu den Erstaufnahmeeinrichtungen zu bringen. „Die kriegen bei uns nur Essen und Trinken und werden gleich in den Bus gesetzt.“ Und dann nimmt er einer Frau doch den Karton mit der Kleiderspende ab.

Polizisten, Feuerwehrleute, ehrenamtliche Dolmetscher, Passanten – alle helfen allen. Im übrigen Bahnhof herrscht das übliche Treiben. Reisende hasten zu ihrem Zug. Ein paar besoffene FC-Bayern-Fans grölen. Keine außergewöhnlichen Vorkommnisse.

Plötzlich steht Claudia Roth zwischen den Flüchtlingen. Es müssten jetzt wirklich alle ran, sagt die Bundestagsvizepräsidentin mit Blick auf die mangelnde Aufnahmebereitschaft vieler Bundesländer. Sie fordert: „Es braucht endlich eine weitere Drehscheibe neben München.“ Dann ist sie verschwunden. Auch Ludwig Spaenle schaut später noch vorbei. Der Münchner CSU-Chef kritisiert Kanzlerin Angela Merkel für ihre Entscheidung, Flüchtlinge aus Ungarn unregistriert einreisen zu lassen.

Und dann kommt wieder ein Zug, wieder auf Gleis 26, das der ehemaligen Schalterhalle am Starnberger Bahnhof am nächsten ist. Ein Meridian aus Salzburg und mit ihm ein paar hundert Flüchtlinge. „Syria? Syria?“ fragen die Polizisten. „Syria! Syria!“ antworten die Ankommenden und werden zu den Helfern durchgewunken. Sie kommen mit Rucksäcken, Plastiktaschen, Rollkoffern; es sind Junge, Alte, Männer, Frauen, Kinder, Hochschwangere. Die einen lachen, schauen sich interessiert um, man merkt ihnen die Freude an, im Land ihrer vorläufigen Träume angekommen zu sein; anderen sieht man in aller erster Linie die Erschöpfung der Reise an; wieder andere blicken nur leer vor sich hin und folgen dem Tross. Ein kleines Mädchen hat eine Gitarre dabei.

Im Laufe der ­vergangenen ­Woche sind ins­gesamt 60.000 ­Asylsuchende am Hauptbahnhof angekommen. Das sind mehr, als der Freistaat Bayern im gesamten Jahr 2014 aufgenommen hat

„Das ist mein Cousin aus Damaskus“, ruft ein Mann außerhalb der Absperrung und winkt dem Verwandten. Über das Gitter hinweg küssen und unterhalten sie sich. Der Vetter hat ein Mädchen auf den Schultern. Ein anderer Mann will einen Jugendlichen durch die Absperrung schmuggeln. „Ich nehme ihn mit nach Hause.“ Ein Polizist und eine Helferin hindern ihn daran. Erst muss der 14-Jährige registriert werden.

Die Flüchtlinge bekommen hier Wasser, Bananen, Kekse, Windeln. Dann geht es durch die alte Schalterhalle. Draußen, vor dem Seiteneingang des Bahnhofs, wo sonst die Taxis warten, stehen Zelte. Hier müssen sich die frisch Angekommenen einem kurzen medizinischen Check unterziehen. Nach rund einer Stunde werden sie von Helfern auf die verschiedenen Busse verteilt. Diese fahren sie dann in die Notunterkünfte. „999 Sonderfahrt“ heißt die ungewöhnliche Buslinie.

Was aber wird, wenn das Fest auf der Wiesn beginnt?

Am Samstag gehen die meisten Busse nach Dornach bei Aschheim im Landkreis München und zur Messestadt. Einige hundert Menschen werden auch in einem früheren Autohaus in der nahegelegenen Karlstraße untergebracht. Zu Fuß. Eskortiert von der Polizei macht sich der Treck auf den Weg durch die Innenstadt.

Um die Verteilung auf die Busse kümmert sich auch die Freiwillige Feuerwehr. Rund um die Uhr sind 20 Mann im Einsatz. „Wir zählen nur noch in Bussen“, sagt einer von ihnen. „Das ist sehr schade.“ Die Massen würden nur noch durchgeschleust; für den einzelnen Menschen könne man sich keine Zeit mehr nehmen. Und dann tut er es doch. Von außerhalb der Absperrung kommen zwei junge Männer auf ihn zu und halten ihm ein Formular unter die Nase. Einer der beiden hat bei der Erstaufnahme in Deggendorf einen Platz in einem Münchner Flüchtlingsheim, der ehemaligen Bayernkaserne, zugewiesen bekommen. Doch wie kommt man dort hin? „Tja, da bräuchten wir jetzt einen netten Bürger …„, sagt der Feuerwehrmann – und braucht nicht weiter zu sprechen. „Ich nehm euch mit“, sagt ein Passant und verschwindet mit den beiden. „Das passiert hier ständig“, erzählt der Helfer.

Doch was bisher gutging, muss nicht immer gutgehen. Der Feuerwehrmann warnt: „Bis nächste Woche brauchen wir hier eine Lösung.“ Denn ab Samstag kommen in München noch ganz andere Massen von Menschen an. Mindestens sechs Millionen in zwei Wochen. Über dem Zugang zur Haupthalle des Bahnhofs prangt bereits ein riesiges Schild: „Willkommen zum Oktoberfest!“

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