Spagat im Speckgürtel

MASKOTTCHEN Kinder, wie die Zeit vergeht: Auf seinem neuen Album, „VI“, ist der ehemalige Gangstarapper Sido sogar witzig

Seit Paul Würdig aus dem Märkischen Viertel herausgekommen und als Rapper unter dem Namen Sido bekannt geworden ist, lernt er hin und wieder auch mal eine andere Berühmtheit kennen. So saß er im Mai 2014, als Conchita Wurst den Eurovision Song Contest gewann, in der deutschen Jury.

Mitjuror war ein gewisser Andreas Bourani, der damals beileibe noch nicht so berühmt war, es kurz darauf aber wurde, als die deutsche Nationalmannschaft in Brasilien die Weltmeisterschaft gewann und dabei, so wollten es die Medien wissen, immerzu einen seiner Songs sang.

Sicher scheint immerhin: Der Paul und der Andreas haben sich gut verstanden. Beide waren sich schon mal einig, dass eine gewisse Conchita Wurst nichts taugt und wählten sie nicht einmal in die Punkteränge. Und nur ein gutes Jahr später haben die beiden Brüder im Geiste zusammen einen Nummer-eins-Hit gelandet. Im wahrsten Sinne des Wortes: Das Lied „Astronaut“ stieg Mitte August auf der Spitzenposition ein, war eine Woche später zwar schon wieder weg vom Fenster, aber Sido hatte endlich seine erste Nummer-eins-Single gehabt.

Tatsächlich kaum zu glauben: Zwar hat jedes von Sidos bislang fünf Alben mindestens die Top-Five erreicht, „Ich und meine Maske“ 2008 sogar Platz eins, aber eine Single hatte es noch nicht ganz nach oben geschafft. „Astronaut“, das war eine Win-win-Situation: Der als einer der „Jungen Milden“ zu erstem Ruhm gekommene Bourani verdiente sich ein wenig Streetcredibility, und Sido löste wieder eine kleine Kontroverse aus, zumindest unter seinen altgedienteren Fans, die sich in den sozialen Netzwerken über die Kooperation mit dem Schmusesänger erregten.

Ein Sturm im Wasserglas, aber einer, der gut passte als Abschluss des langen Weges, den Sido gegangen ist, aus dem Westberliner Plattenbau an die Spitze. Ein Weg, wie ihn Straßenrapper, wie es Sido einmal war, in ihren Songs traditionell schon einmal vorwegnehmen.

Blume im Zement

Ein Weg, den Sido nun auf seinem neuen Album, „VI“, noch einmal, wieder einmal genüsslich nachzeichnet. „Zu nett fürs Ghetto, zu Ghetto für die Spießer“, reimt er und stilisiert sich in „Löwenzahn“ zur „gelben Blume, die den Zement durchbricht“, die Kleinkriminalität hinter sich lässt und es herausschafft aus „der Hood“.

Nur um gleich anschließend „Vom Frust der Reichen“ zu rappen: Mit leisem Spott seziert Sido die Denkart der besitzenden Klasse, deren größte Sorge ist, ob die neue Tasche auch mit der neuen Nase harmoniert, und deren größtes Problem darin besteht, dass die Golfschläger nicht in den viel zu kleinen Ferrari-Kofferraum passen.

So witzig, so auf den Punkt war Sido schon lange nicht mehr. Vielleicht ja, weil der 34-jährige Rap-Millionär, der mittlerweile verheiratet ist und in einer Villa im Speckgürtel residiert, diese Klientel aus nächster Nähe studieren konnte – und längst viel besser kennt als die Leute aus „Mein Block“, dem Stück übers Märkische Viertel, mit dem er berühmt wurde.

Immer dann aber, wenn sich Sido zum gesellschaftskritischen Mahner aufzuschwingen versucht, verlässt ihn sein sonst so sicheres Gespür dafür, wann man sich selbst nicht allzu ernst nehmen sollte. Er beklagt „den Lärm um nichts“, sorgt sich in „Knochen und Fleisch“ um Flüchtlinge, Kindersoldaten, Obdachlose und Minenopfer, schimpft auf „Vorurteile, Missgunst, Ignoranz und Menschenhass“ und meint: „Alle kehren es unter dem Teppich, aber ich trau mich.“

So recht weiß man nicht, wie man es einordnen soll, dieses sechste Werk von Sido, dem Berliner HipHop-Maskottchen. Über Beats, die zwar nicht allzu aufregend, aber durchaus funktional geraten sind, scheint er akzeptiert zu haben, dass man nicht ewig der coole Typ aus dem Ghetto sein kann. Denn dann, wenn Sido beobachtet, was um ihn herum passiert, wenn er genau hinsieht und das in Reime packt, dann ist er immer noch ein großartiger Rapper. Aber der Spagat zwischen dem Märkischen Viertel und den neuen Freunden, den schafft überzeugend nicht einmal ein Chamäleon wie der ehemalige Maskenmann Sido. Thomas Winkler

Sido: „VI“ (Universal Music)

Live am 7. Dezember in der Max-Schmeling-Halle