piwik no script img

Expedition indie Filmzukunft

LIDOKINO 1 Mit dem Bergfilm „Everest“ beginnen heutedie Filmfestspielein Venedig. Direktor Alberto Barberaschaut auch, wasauf Netflix passiert

Wer den Bergfilm aus den Gletscherspalten der Vergangenheit bergen möchte, hat weder eine leichte noch eine lohnende Aufgabe vor sich. Seit Leni Riefenstahl in den 20er Jahren begann, für den Regisseur Arnold Fanck den Eispickel zu schwingen, ist das Genre ideologisch belastet. Jüngere Versuche wie Philip Stölzls „Nordwand“ (2008) oder Joseph Vilsmaiers „Nanga Parbat“ (2009) tun sich schwer, das Pathos von den todesmutigen Männern, die den Berg bezwingen, in Grenzen zu halten. Nicht zu vergessen das Pro­blem des Maßstabs: Der Berg ist groß, der Mensch ist klein, und der Wechsel aus Panoramatotalen und näheren Einstellungen bringt es mit sich, dass man den in der Montage behaupteten räumlichen Zusammenhang zwischen dem fernen, majestätischen Gipfel und den nahen, sich abrackernden Bergsteigern nicht zu glauben bereit ist.

Auf den ersten Blick also mutet es ein wenig erstaunlich an, dass die 72. Mostra internazionale d’arte cinematografica, die am Mittwoch am Lido von Venedig beginnt und bis zum 12. September dauert, einem Bergfilm die Ehre zuteil werden lässt, das Festival zu eröffnen. „Eve­rest“, besetzt unter anderem mit Jake Gyllenhaal und Robin Wright, erzählt von einer Expedition im Himalaja, die 1996 stattfand und unglücklich verlief. Inszeniert hat der isländische Regisseur Baltasar Kormákur, gedreht wurde zu großen Teilen am Hochjochferner in Südtirol, und es bleibt abzuwarten, wie Kormákur die erwähnten Probleme – Pathos, Maßstab – bewältigt.

Vielleicht bewegen sich die Helden im Schneegestöber ohnehin auf die Monochromie eines Experimentalfilms zu (wäre doch nur die Funktionskleidung nicht so bunt!), oder Alberto Barbera, seit 2012 Direktor der Mostra, arbeitet an einem heimlichen Leitmotiv für die Eröffnungsfilme: So wie Alfonso Cuaróns „Gravity“ 2013 und Alejandro González Iñárritus „Birdman“ 2014 versuchten, der Schwerkraft eine Nase zu drehen, so tut dies nun auch „Everest“. Interessant ist die Wahl des Films noch aus einem anderen Grund. Denn wie kein anderes der renommierten A-Filmfestivals ist die Mostra einer vergangenen Zeit verhaftet.

Wie kein anderesder renommierten A-Filmfestivals ist die Mostra einer vergangenen Zeit verhaftet

Sie war 1932 das erste Filmfestival, das ins Leben gerufen wurde, zu einer Zeit, in der der Bergfilm sich großer Beliebtheit erfreute, und sie zehrt noch heute von einstiger Grandezza. Aus Anlass der 70. Ausgabe vor zwei Jahren feierte sie sich selbst, indem sie jeder Filmvorführung historische Clips voranstellte. Die faschistische Eintrübung der ersten Jahre wurde dabei weder verschwiegen noch reflektiert; sie trat einfach nur klar und deutlich zutage. Zugleich sucht das Festival den Anschluss an die Gegenwart; besonders Marco Müller, Barberas Vorgänger, lag daran, neuen Formen des Bewegtbilds ein Forum zu schaffen; er öffnete die Orizzonti-Nebensektion für Filme und Videos aus dem Kunstkontext.

Barbera wiederum, dessen Vertrag in diesem Jahr ausläuft, gab kürzlich der britischen Tageszeitung Guardian gegenüber zu bedenken: „Netflix und vermutlich auch Amazon werden wichtige Akteure für die Produktion und den Verleih von Filmen weltweit. Wir können sie nicht ignorieren.“ Dementsprechend wird im Wettbewerb ein Film laufen, den Cary Fukunaga, bekannt für die Serie „True Detective“, für den Serienanbieter Netflix gedreht hat. „Beasts of No Nation“ handelt von einem Bürgerkrieg in einem nicht näher genannten afrikanischen Land, es geht um Kindersoldaten, und der Schauspieler Idris Elba, der in der HBO-Serie „The Wire“ als geschäftstüchtiger Drogendealer hervortrat, spielt auch mit.

Neben „Beasts of No Nation“ konkurrieren 20 weitere Filme um den Goldenen Löwen, darunter neue Arbeiten alter Meister wie Aleksandr Sokurov, Marco Bellocchio oder Jerzy Skolimowski sowie ein Filmessay der Musikerin Laurie Anderson: „Heart of Dog“, der, so die Regisseurin, von David Foster Wallace inspiriert sei: Jede Liebesgeschichte sei eine Geistergeschichte. Cristina Nord

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen