Riesenfloh mit Magenkrämpfen

KINO „Das Märchen der Märchen“ von Matteo Garrone inszeniert entfesselte Gewalt und bedient zugleich die Schaulust des Publikums

Zunächst einmal hat dieser Film etwas wohltuend Irritierendes, bietet überraschende Blicke auf altbekannte Stoffe und wirkt wie ein Gegenprogramm zu den herkömmlichen Fantasy-Suppen. Matteo Garrone, bekannt geworden durch seinen düsteren, fast dokumentarisch gefilmten Mafiafilm „Gomorrha“, versucht, die fantastischen Momente eines Märchens mit Realismus aufzuladen.

Wenn John C. Reilly zu Beginn von „Das Märchen der Märchen“ mit schwerer Montur und kupferfarbenem Taucherhelm ins Wasser steigt, sieht man nichts als trübes Wasser. Die Leinwand ist alles andere als eine Projektionsfläche und wirkt seltsam entleert. Das Königliche an Reillys Figur ist reduziert auf eine schemenhafte Kontur, die sich schweren Schrittes und mit einer Lanze bewaffnet auf ein Seeungeheuer zubewegt. Dieses auf dem Meeresboden liegende Fabelwesen und seine Ausmaße erahnt man zunächst nur – umso bedrohlicher wirkt es.

Das Monster erhebt sich, und ein Zweikampf beginnt. Ohne seinen Heldenmut unter Beweis stellen zu können, stirbt der König, niedergestreckt von einem Prankenschlag. Sein Ziel hat er dennoch erreicht: Das noch immer klopfende überdimensionale Herz des Ungeheuers wird seiner Königin (Salma Hayek) auf den Tisch gelegt, nach einem geheimnisvollen Brauch soll es für ein Fruchtbarkeitsgebräu verwendet werden.

Es sind solche sachlich überhöhten, nüchtern magischen Momente, die den ganz eigenen Stil von Matteo Garrones Film „Das Märchen der Märchen“ ausmachen. Der derzeitige Märchenboom in Hollywood kennt hingegen nur die Extreme Horror und Herzschmerz. Er verwandelt unsere Kindheitshelden und -heldinnen in wild herumballernde Terminatoren („Hänsel und Gretel“) oder Schneewittchen in eine schwertschwingende Rächerin („Snow White and the Huntsman“), deren Wege durch düstere Wälder von Leichen gesäumt sind. Es fallen Sätze wie „Wir sind auf den Geschmack von Blut gekommen. Hexenblut!“ In seiner verspielten, knallbunten „Cinderella“-Adaption feiert Kenneth Branagh wiederum ganz offensiv den Kitsch, die Opulenz.

Nun liegt es in der Natur der Märchen, vertraute Stoffe in immer neuen Varianten weiterzugeben, angepasst an Zeit und Ort, an politische und zeitgenössische Umstände. Was also hat Matteo Garrone an der Märchensammlung „Das Pentameron“ von Giambattista ­Basile aus dem 17. Jahrhundert gereizt? Möchte er seine Gewaltstudie, die er mit „Gomorrha“ begann, in einem mittelalterlichen Rahmen fortsetzen? Will er Ursachen und Folgen der Gewalt in einem archetypischen Raum erforschen? Drei von Basiles Geschichten, die in unterschiedlichen Königshäusern spielen, verknüpft Garrone zu einer Erzählung. Doch bald fragt man sich, um was es dieser Erzählung eigentlich geht, was die Figuren und ihrer Schicksale verbindet.

Liebestoll

Eben noch war man in den Gemächern des naiven Königs (Toby Jones) von Highhills, der seine Liebe zu einem Floh entdeckt und ihn mit Steaks zu riesenhafter Größe mästet. Dann liegt man mit dem liebestollen Herrscher über Strongcliff (Vincent Cassel) im Bett und lauscht den durchs Fenster dringenden sehnsüchtigen Gesängen einer zarten Stimme. Was der König nicht weiß: Sie gehört keineswegs einer schönen Jungfrau, sondern einem alten Waschweib. Der närrische Flohliebhaber wird seine um Gnade flehende Tochter in die Hände eines abstoßenden Oger geben, in dessen Berghöhle voller Menschenskelette sie fortan hausen soll. Bei einem ihrer Fluchtversuche wird eine unschuldige Familie von dem Riesen niedergemetzelt. Und um das Begehren des Königs von Strongcliff zu erlangen, wird sich eine alte Frau die Haut von einem Messerschleifer abziehen lassen.

Eher teilnahmslos lässt man diesen immer brutal werdenden Bilderreigen an sich vorüberziehen. Wo Märchen ihre Figuren durch archetypische Konstruktionen auffangen, lässt Garrone seine Figuren allein. Vielleicht wollte hier jemand ein entfesseltes Märchen drehen, eines, das kein Gut und Böse kennt und keine moralische Lektionen erteilen will. Vielleicht wollte Garrone einfach nur die Abgründe, Perversionen und geheimsten Sehnsüchte der menschlichen Seele ins Bild setzen. Aber ohne Bezugs- oder Referenzsystem, ohne Anbindung an alte und neue Ängste wird die Gewalt letztlich nur ausgestellt.

Zugegeben, in manchen Momenten des Films stellt sich der Schauer des Voyeurismus ein. Man verspürt eine gewisse Schadenfreude, wenn der voluminöse Floh von Magenkrämpfen heimgesucht wird und bekommt eine Gänsehaut, wenn Salma Hayek (die wieder einmal großartig ist) in das klopfende Ungeheuerherz beißt, um endlich schwanger zu werden. Und doch taucht angesichts dieses Jahrmarkts der Absonderlichkeiten eine Frage auf, die ein echtes Märchen eigentlich selbst beantwortet: Was soll’s?

Anke Leweke

„Das Märchen der Märchen“. Regie: Matteo Garrone. Mit Salma Hayek, Vincent Cassel u. a. Italien/Frankreich/Großbritannien 2015, 106 Min.